Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
und drängte sich an ihr vorbei nach unten.
Marie musste sich am Geländer festhalten, um nicht schon wieder hinzufallen.
Felix war längst in der Küche und trank Wasser aus dem Wasserhahn. Er rieb sich mit seinem T-Shirt den Mund trocken.
»Was hat er gesagt?«
»Dass er uns lieb hat und all so was. Er ist nicht tot.«
»Felix, das war jemand anderes. Es gibt solche Menschen. Der Mann am Telefon hat so getan, als wäre er Papa.«
»Nein! Das war Papa. Ich habe ihn an seiner Stimme erkannt. Papa lebt. Er ist nicht tot. Und du hast gelogen!«
7.
Wenige Tage später fand der gemeinsame Trauerakt für die in Kundus getöteten deutschen Soldaten statt. Das Verteidigungsministerium hatte Marie eingeladen und sogar einen Wagen nach Usedom geschickt, der sie und den Jungen zu der Feier bringen sollte.
Marie hatte noch mehrmals versucht, Felix klarzumachen, dass das am Telefon nicht sein Vater gewesen sein konnte. Aber es war ihm nicht beizukommen. Er war davon überzeugt, dass sein Vater am Leben war. Und er glaubte seiner Mutter kein Wort.
Immerhin – er sprach wieder.
»Soll ich etwa allein zur Trauerfeier fahren?«, fragte sie ihn, als die Einladung kam.
Felix überlegte. »Wollen die Papa in Berlin begraben?«
Marie schüttelte den Kopf. »Das ist kein Begräbnis. Es ist nur eine Trauerfeier.« Sie wusste, dass die Särge im Bendlerblock aufgereiht stehen würden. Mit Kränzen. Und sie fragte sich, wie das auf Felix wirken würde.
Aber sie konnte ihn nicht so lange zur Hinrichsen schicken. Das würde die alte Frau überfordern. Also nahm sie ihn mit. Die Gewissheit, dass sein Vater lebte, hatte sich bei ihm so gefestigt, dass auch der Anblick der fünf Särge – sie trugen, soweit Marie wusste, Fotos der Gefallenen – ihn wahrscheinlich nicht davon abbringen würde.
Felix, der selten Auto fuhr, seit Karl in Kundus war, freute sich auf die lange Fahrt mit der eleganten Limousine. Der Fahrer, ein junger Obergefreiter, der am Anfang nicht recht wusste, wie er mit seinen Fahrgästen umgehen sollte, war dankbar, als Felix ihn bat, ihm einige Details des Wagens zu erläutern. So sprachen die beiden zwei Stunden lang über die Motorleistung, die Ausstattung und die vielen Extras des großen Wagens. Marie entlastete das. Sie hing ihren Gedanken nach und versuchte, nicht an den Anblick der fünf Särge zu denken, der sie in Berlin erwartete.
»Fahren Sie uns auch wieder nach Hause?«, fragte Felix.
Der Wagen interessierte ihn mehr als die Feier – und Marie war erleichtert.
»Sicher. Wenn deine Mutter das will.«
Felix rückte näher und legte seine Hand in die ihre. »Willst du das?«
»Natürlich. Wie sollen wir sonst wieder auf die Insel zurückkommen?«
»Super!«, jubelte Felix und trommelte gegen das braune Lederpolster.
Der Wagen passierte die Sicherheitssperren und hielt dann an einem Seiteneingang des Bendlerblocks. Ein Uniformierter erwartete Marie und Felix. Er drückte beiden die Hand und zeigte dabei einen nichtssagenden Gesichtsausdruck, den er wohl für pietätvoll hielt, wie Marie vermutete.
Die drei durchquerten schweigend endlose Flure, in denen es nach einem starken Putzmittel roch. Die Böden waren grau und matt. Kein Fußabdruck war zu sehen. Aus den Räumen drang kein Ton. Es schien Marie so, als wären sie die einzigen Menschen in diesem riesigen Gebäude. Durch blank geputzte Fenster mit weißen Holzrahmen sah man auf die Höfe. Sie waren groß und kahl – für Aufmärsche angelegt.
Dann klopfte der Uniformierte an eine Tür und wartete, bis von innen geöffnet wurde. Ein weiterer, der älter war und einen höheren Rang hatte, übernahm die Besucher. Sie betraten ein Vorzimmer mit zwei Schreibtischen und Monitoren, die Staubschutzhauben trugen. Felix starrte mit großen Augen den Mann an. Vor allem die winzigen roten und gelben Auszeichnungen, die auf der Brust des Offiziers prangten, hatten es ihm angetan.
Der Mann klopfte an einer Tür, die gepolstert war.
Er lauschte, bis er etwas hörte. Dann öffnete er die Tür – und Felix entfuhr ein: »Oh!«.
Hinter der Tür gab es noch eine zweite Tür. Auch die öffnete der Uniformierte, schlüpfte hinein und sprach leise mit jemandem. Dann erst öffnete er beide Türen weit und ließ die Gäste ein.
Marie und Felix gelangten in ein quadratisches, helles Büro mit zwei Fensterseiten. Man schaute hinaus auf einen grauen Exerzierplatz. Hinter dem massigen Schreibtisch stand ein Zivilist. Er hatte eine hohe Stirn,
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