Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
durch sie zu Erkenntnissen, die ihn wissenschaftlich weiterbrachten.
Die Bucht war verlassen wie immer. Das Ufer war flach und die Ostsee gebärdete sich nicht wie ein wildes nordisches Tier. Auf beiden Seiten der Bucht erhoben sich Felsen. Hier war man gut aufgehoben, man hörte nur das Plätschern des Meeres und das Rauschen der hohen Kiefern, die zwischen dem Dünengestrüpp herausschauten wie Giraffenhälse.
Marie ließ sich auf die Erde nieder. Felix blieb stehen und schaute aufs Meer hinaus.
Sie zog sanft an seinem Arm. Er gab nach und ließ sich in den Sand fallen, als hätte sie ihn mit einer Axt gefällt.
Sie blickte aufs Wasser und wartete.
Felix blieb wie tot neben ihr im Sand liegen.
Sie streichelte über seine Haare.
Er ließ es geschehen. Seine Augen blieben geschlossen. Er zeigte keine Regung.
»Ich weiß, dass das alles sehr schwer ist. Wir haben keinen Vater mehr.«
Sie fand selbst, dass das zu salbungsvoll klang. Aber wie sollte sie anfangen?
Felix stand auf. Er schnaufte dabei wie ein alter Mann. Er streckte sich erst, dann bückte er sich und ergriff einen kleinen Stein. Er wiegte ihn kennerhaft in der Rechten.
Das hatte sein Vater ihm gezeigt. Karl hatte oft auf diese Art die Steine geprüft, bevor er sie übers Meer hatte springen lassen. Jetzt tat der Junge es ihm nach. Wie sehr er seinem Vater ähnelte: Er knickte genauso wie Karl leicht in der Hüfte ab, bevor er den Stein warf. Und der Stein prallte auch fast so oft von der Wasseroberfläche wieder ab wie bei seinem Vater.
»Warum redest du nicht mit mir?«, fragte sie leise. Es sollte nicht vorwurfsvoll klingen. »Es hilft, wenn man redet.«
Der Junge nahm den nächsten Stein und wog ihn nachdenklich in der Hand. Dann warf er. Der Stein traf in einem Winkel auf, der nicht spitz genug war, und versank mit einem Glucksen in der Ostseebrühe.
Marie sprang auf und ging zu ihm hin. Sie packte ihn am Oberarm. »Hörst du, Felix? Mir tut das weh, wenn du nicht redest. Warum redest du nicht mit mir?«
Der Junge machte sich los und rannte davon. Er lief mit schnellen, kräftigen Schritten. Das Profil seiner Schuhe warf den Sand hoch bis zu seinen Schultern.
»Felix!«
Marie wusste, dass es wenig Sinn hatte, hinterherzulaufen. Im Sand war der Junge schneller als sie.
Sie hob ihre Weste auf. Dann machte sie sich auf den Nachhauseweg. Sie hätte jetzt Rotz und Wasser heulen können. Aber die Wut in ihr war stärker als das Selbstmitleid. Wut auf den Jungen, der sich so stur und gefühllos zeigte. Wo er doch wissen musste, dass sie ihm helfen wollte. Dass sie ihm helfen musste, wenn sie nicht selbst vor die Hunde gehen wollte.
Wut aber auch auf Karl.
Endlich konnte sie sich das eingestehen. Das war befreiend, erleichternd. Sie konnte ihre Stärke beweisen, indem sie gegen das anschimpfte, was ihr da zugemutet wurde.
Erst ging Karl in den Krieg und ließ sie mit dem Jungen allein. Es war nicht ihre Idee gewesen, das Geld für ihr Haus auf diese Art zu verdienen. Wenn sie weitergearbeitet hätte, hätten sie das auch ohne Kundus geschafft. Überhaupt – wer hatte denn dieses Häuschen am Meer unbedingt haben wollen? Sie nicht. Es war Karls Wunsch gewesen. Um seiner schönen Kindheitserinnerungen willen. Sie hätte auch weiter irgendwo im Binnenland gelebt. Vielleicht lieber als hier draußen, wo sie niemanden hatte außer der alten Frau Hinrichsen und den aufgescheuchten Hühnern, die morgens wie sie ihre Kinder zu Schule brachten.
Das alles hatte Karl ihr eingebrockt.
Nun ließ er sie allein in dieser Einöde zurück. Er hatte sich aus dem Staub gemacht. Und sie hatte nun einen Jungen, der kein Wort mehr sprach. Ein Haus, das sie nie hatte haben wollen und an dem sie nun ihr Leben lang abzahlen musste. Wenn sie es überhaupt halten konnte. Wahrscheinlich musste sie es verkaufen und machte bei der derzeitigen Immobilienkrise noch einen kräftigen Verlust, der sie ihr weiteres Leben lang verfolgen würde. Hatte sie das haben wollen? Nein.
Sie hatte einfach nur glücklich sein wollen. Mit einem netten Mann und einem Kind, das sie liebte. Und was war daraus geworden? Sie war Witwe und hatte einen Jungen, der nicht mehr richtig tickte.
Marie war so in Rage, dass sie den Rückweg in viel kürzerer Zeit bewältigte als den Hinweg.
Um Felix machte sie sich keine Sorgen. In den letzten Tagen war ihr klar geworden, dass das Kind zwar nicht mehr sprach, dass es aber andererseits zu dem Krankheitsbild, wenn man seine Veränderung so nennen
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