Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
dass die Bundeswehr ein Bestandteil der Demokratie war. Der Demokratie, an die Marie, die nicht an viel glaubte, seit einiger Zeit zu glauben versuchte.
Und nun sollte diese Bundeswehr, die – wie sie auch von Karl wusste – von verantwortungsvollen und ernsten Männern geführt wurde, Gesetze gebrochen haben? Diese Bundeswehr oder etwas, was von dieser Bundeswehr abhing, sollte in ihre Wohnung eingebrochen sein und eine CD gestohlen haben? Diese Bundeswehr sollte einen harmlosen Geistlichen, der nichts anderes tat, als seine Finger in die offene Wunde Afghanistan zu legen, terrorisieren, ihn jagen und seine Wohnung verwüsten?
Beides konnte Marie sich nicht vorstellen. Nicht bei den Männern, von denen Karl ihr berichtet hatte. Das waren doch Menschen, die in der Demokratie aufgewachsen waren. Die drangen nicht in fremde Wohnungen ein, die verfolgten keine unschuldigen Menschen.
Andererseits: Wer hatte den Sarg in der Leichenhalle von Koserow mit Sandsäcken gefüllt? Und warum? Das musste doch jemand von der Bundeswehr gewesen sein. Von Karls Bundeswehr. Wieso behaupteten sie, Karl wäre tot, obwohl er am Leben war? Warum hatte Karl Angst davor, geortet zu werden? Er hatte doch niemandem etwas getan?
Marie fand keine Antworten auf diese Fragen.
Deshalb beschloss sie, nur noch einem Menschen zu trauen. Sich selbst.
Felix wollte die CD sehen, die Karl geschickt hatte.
Marie sagte ihm, sie sei verschwunden.
Felix glaubte ihr nicht. Marie wollte nicht, dass er ihr misstraute. Der Junge hatte in den letzten Wochen schon genug durchgemacht.
Also durchsuchten sie nun zusammen das Haus. Von oben bis unten. Die CD blieb verschwunden.
»Aber wo kann sie sein?«, fragte Felix.
»Vielleicht hat sie jemand gestohlen …«
Felix schaute sie ungläubig an. Marie wusste selbst, dass das eigenartig klang. Aber was sollte sie ihrem Jungen sonst sagen?
»Dieser Gunter vielleicht?«, fragte er lauernd.
Kein Wunder, dass der Junge Gunter als Eindringling ansah. Schließlich hatte er ihn im Bett seiner Mutter überrascht. »Der kommt nicht infrage. Überleg doch mal: Er hat uns die CD doch gebracht. Warum sollte er sie uns dann stehlen?«
Das schien Felix einzuleuchten. Er war dennoch traurig, dass er die Botschaft seines Vaters nicht zu sehen bekam. Marie nahm ihn in den Arm: »Warum schreibst du Papa nicht einen Brief? Er freut sich sicher.«
Seit ein paar Tagen taten die beiden so, als hätte es die Nachricht von Karls Tod nie gegeben. Für Felix hatte es sie auch nicht gegeben. Und Marie schwenkte jetzt auf seine Linie ein. Das war nicht nur eine Frage der Wiedergutmachung. Es war auch weniger verwirrend.
Felix überlegte eine Weile, dann holte er seinen Ranzen, packte ein Heft und das Mäppchen aus, setzte sich an den Küchentisch und fing an zu schreiben.
Marie leistete ihm derweil Gesellschaft. Sie erledigte die Hausarbeit.
Felix saß da wie immer, wenn er in etwas vertieft war. Der Kopf klebte fast auf dem Heft. Die Zungenspitze schaute aus seinem Mund.
Marie sah ihn gerne so. Sie glaubte, dass er glücklich war, wenn seine Zunge vor lauter Eifer hervorschaute. So wie Hunde mit dem Schwanz wedelten, wenn sie sich freuten.
»Soll ich dir den Brief vorlesen?« Er saß jetzt kerzengerade, das Heft hielt er wie eine Sängerin ihre Noten. Sein Kopf war hochrot.
Marie wischte ihre feuchten Hände am Geschirrtuch ab und lehnte sich gegen die Spüle. »Dann mal los!«
Felix räusperte sich. Dann las er stockend und ohne Betonung: »Wir wissen, dass du nicht tot bist. Ab heute stelle ich jeden Abend eine Kerze ins Fenster. Sie soll dir den Weg weisen, wenn du nach Hause kommst. Vielleicht kommst du ja in der Nacht und siehst nichts. Dann ist die Kerze da.«
Felix schaute auf.
Marie ging zu ihrem Sohn, beugte sich zu ihm herab und umarmte ihn.
Felix ließ sich das nur kurz gefallen. Dann machte er sich los. »Mama, ich möchte ein Handy.«
Wie kam er denn jetzt darauf?
»Ein Handy? Mit neun Jahren?«
»Mensch, Mama!« Er begann zu jammern, wie er das früher oft getan hatte, wenn sie ihm etwas verwehrt hatte. »Mama, das wäre doch toll. Die Lösung, wenn du mich fragst.«
Wenn du mich fragst. Solche Redewendungen hatte er von seinem Vater. Seit Karl in Afghanistan war, redete er immer öfter so. Marie mochte das nicht. Ein Kind sollte reden wie ein Kind und nicht wie ein Erwachsener. Aber sie wusste auch, warum er das tat, warum er die Redeweise seines Vaters nachahmte: Er wollte ihr das Gefühl geben,
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