Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
Sohlen der Wachen verursachten auf dem glatten Marmorfußboden ein leises Quietschen – obwohl die Männer sich nicht bewegten.
Sie kniete vor einem Sarg, in dem ihr toter Mann liegen sollte. Karl aber war in Kundus und musste sich verstecken. Vor wem? Warum hatte er Angst, geortet zu werden? Musste er seine eigenen Kameraden fürchten – oder wie war seine Ermahnung zu verstehen, niemandem zu trauen? Was war in Kundus geschehen?
Je länger Marie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es nur eine Erklärung gab: Karl war unter dem Druck des Krieges zusammengebrochen und verrückt geworden.
Aber wenn es so war, hatte er in dem Hexenkessel von Kundus keine Chance. Dann war er, obwohl er sich irgendwo versteckte, so gut wie tot. Allein würde er dort nicht überleben.
Insofern hatte diese Beerdigung ihre Berechtigung.
Marie taten die Knie weh. Sie erhob sich. Dann stand sie eine Weile vor dem Sarg.
Nun kamen ihr doch die Tränen. Sie wandte sich der Wache zu ihrer Linken zu. »Ich möchte allein Abschied nehmen.«
Die Wache schaute über sie hinweg den Kameraden an. Der zuckte mit den Achseln.
Marie fürchtete, die beiden würden sich nicht von der Stelle rühren. »Nur eine Sekunde, bitte!«
Die Tränen liefen ihr über die Wangen – obwohl sie nicht beabsichtigte, die Soldaten damit zu rühren. Die beiden hatten sicher den strengen Befehl, nicht von dem Sarg zu weichen, bis er in der Erde war.
Die Wache links von ihr seufzte. »Komm, wir gehen eine rauchen!«
Als hätten sie den Befehl dazu erhalten, verließen sie die Leichenhalle.
Marie knöpfte den Mantel auf. Die Zange, die Karl immer unter der Spüle liegen hatte, steckte in der Innentasche.
Es gab vier Schrauben an dem Sarg. In jeder Ecke eine. Marie hätte es nie geschafft, wenn die Schrauben richtig angezogen gewesen wären. Doch in Berlin hatte jemand geschlampt. Sie brauchte die Zange nicht. Drei, vier Umdrehungen von Hand genügten und die Flügelschrauben ließen sich entfernen. Der Sargdeckel war nicht schwer. Sie hob ihn nur so weit an, um hineinschauen zu können. Wenige Zentimeter genügten.
In der Außentasche des weiten Mantels hatte sie die kleine Taschenlampe von Felix. Sie war davon ausgegangen, dass es in der Leichenhalle dunkel sein würde.
Der Schein der Lampe war nur schwach. Aber er genügte.
Marie konnte es deutlich sehen. In dem mit weißer Seide ausgeschlagenen Sarg lagen Sandsäcke.
In der Nacht läutete das Telefon.
Marie hatte es neben ihr Bett gelegt – sie hoffte auf einen weiteren Anruf von Karl.
Doch es war Gunter. Er sprach schnell und verhaspelte sich ständig.
»Weißt du, wie spät es ist?«, fragte Marie.
»Ich bin hier nicht mehr sicher. Sie sind hinter mir her.«
»Wer?« Marie fühlte sich an den Anruf aus Kundus erinnert. Karl hatte sich ebenso gehetzt angehört wie Gunter.
»Sie waren … sie haben meine Wohnung durchsucht. Alles durcheinander. Das Oberste nach unten gekehrt. Ich kann nicht mehr in Berlin bleiben. Sie wollen mich kleinkriegen«, sagte Gunter, ohne auf Maries Frage einzugehen.
Marie fiel Karls Video ein. Sie hatte nirgendwo einen Hinweis darauf entdeckt, dass jemand ihre Wohnung durchwühlt hatte. Aber gab es nicht Leute, die so etwas konnten, ohne Spuren zu hinterlassen?
Wenn Gunters Behauptung stimmte, waren sie bei ihm weniger sorgfältig vorgegangen. Oder gehörte es zum Plan, aufzufallen? Sollte der Militärgeistliche wissen, dass man ihn im Visier hatte?
»Kann ich mich für ein paar Tage bei dir verstecken?«
Auf keinen Fall. Das ging doch nicht. Vor allem nicht in Koserow.
Marie bereute es, Gunter gegenüber schwach geworden zu sein. Der viele Alkohol war schuld gewesen. Und die Einsamkeit. Ihre Nerven hatten nicht mehr mitgemacht. Alles war zu viel für sie. Sie musste an den Jungen denken. Gunter in ihrem Ehebett, das hätte sie Felix niemals zumuten dürfen. Gunter hatte hier überhaupt nichts verloren.
Marie lehnte entschieden ab: »Mein Mann würde das nicht wollen.«
»Meine Schwester Pia lebt in Schweden. In der Nähe von Älmhult. Das ist im Süden.«
Marie kannte Älmhult. Die Ikea-Stadt.
»Pia sagt, sie kommt nach Usedom.«
Jetzt auch noch die Schwester. An wen war Marie da bloß geraten? »Das geht nicht. Der Junge braucht …«
Gunter unterbrach sie. »Es wäre nur für kurze Zeit. Bitte! Ich kann mich auf meine Schwester verlassen. Sie kommt mit dem Wagen und holt mich bei dir ab.«
Was bildete dieser Gunter sich ein? Jetzt brauchte
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