Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
dass er schon fast erwachsen war. Dass er seinen Vater ersetzen konnte. Das rührte Marie. Aber sie brauchte keinen kleinen Mann an ihrer Seite. Sie brauchte ein Kind. Ihr Kind.
»Wofür wäre denn ein Handy die Lösung?«
»Für mein Problem.«
»Was ist denn dein Problem?«
»Dass ich nie da bin, wenn Vater anruft.«
Vater? Es war das erste Mal, dass er Karl Vater nannte. Sonst sagte Felix immer Papa. Das gefiel Marie erst recht nicht. Vater! Wo waren sie denn? In einer TV-Serie?
»Er kann mich immer und überall erreichen, wenn ich ein Handy habe. Sogar in der Schule. Bitte, Mama, erlaube es!«
Marie wurde wütend. Ein Neunjähriger brauchte kein Handy. Das widersprach den Grundsätzen ihrer Erziehung. Sie wollte, dass ihr Sohn altersgerecht aufwuchs. Ein Handy gehörte nicht dazu.
»Hör mal, wenn du alt genug bist, bekommst du ein Handy. Aber jetzt …«
Felix sprang auf. »Wann soll das sein?« Er war wütend. »Wenn ich dreißig bin oder vierzig. Dann brauche ich kein Handy mehr. Dann ist Papa schon lange tot.«
Marie hatte plötzlich das Gefühl, dass der Junge sie zu erpressen versuchte. Sie spürte, dass sie aggressiv wurde. Das wollte sie nicht. Sie musste die Sache schnellstens beenden.
»Nein. Du bekommst kein Handy!«
Tränen standen ihm in den Augen. Er ballte die Fäuste. »Mama, bitte!« Es klang nicht wie eine Bitte, es klang wie eine Drohung.
»Nein heißt Nein!«
Er starrte sie fassungslos an. Jetzt hasst er mich, dachte Marie.
»Du bist ein solcher …« Er biss sich auf die Lippe. »Papa würde mir eins kaufen.«
Bevor sie etwas entgegnen konnte, war er – die Türe schlagend – hinausgerannt.
14.
Marie versuchte wieder zu arbeiten. Im Trubel der letzten Tage war sie kaum zu etwas gekommen. Die Verlage warteten aber auf ihre Gutachten. Jetzt, wo sich die Situation wieder beruhigt hatte – oder hatte sie das nicht? –, musste sie versuchen, sich wieder in ein Manuskript hineinzudenken.
Doch sie saß noch keine fünf Minuten über der Geschichte mit dem Fabrikdirektor, der jeden Tag ein Stück kleiner wurde, da läutete das Telefon.
»Renate Glassmaier. Sie erinnern sich?«
Marie brauchte eine Weile, dann dämmerte es ihr.
»Die Journalistin von Spiegel-TV«, half die Anruferin.
Was hatte das zu bedeuten? Es war doch alles vorbei. Die Zeitungen hatten über den Anschlag geschrieben, die Fernsehsender hatten Bilder von der Trauerfeier in Berlin gezeigt, die Linke hatte wieder einmal gefordert, dass sich Deutschland endlich aus Afghanistan zurückziehen sollte. Sie hatten doch längst wieder andere Themen. Bis zum nächsten Anschlag.
»Ich dachte, ich rufe Sie an und weise Sie darauf hin.«
»Worauf?«
»Schauen Sie nicht fern? Oder ins Internet?«
»Ich habe momentan andere Dinge zu tun.«
Die Spiegel-Journalistin schwieg. »Klar. Das verstehe ich. Aber es betrifft Sie. Deshalb sollten Sie es sich anschauen.«
»Was denn?« Marie klang genervt, aber das war jetzt auch egal.
»Heute Abend auf Vox. Spiegel-TV.« Und dann etwas angestrengt: »Das Magazin, für das ich arbeite. Sie werden staunen!«
»Worüber denn?« Rief diese Journalistin bei allen Leuten, die sie kannte, durch, wenn etwas von ihr kam? Um die Einschaltquote hochzutreiben? Das war doch eine Frechheit, fand Marie und wollte schon auflegen.
»Es geht um Ihren Mann.«
Marie stockte der Atem. »Was ist mit ihm?«
Die Journalistin genoss es, Maries Reserviertheit überwunden zu haben. »Ich würde gerne in Ruhe mit Ihnen reden, wenn Sie meinen Beitrag gesehen haben. Ich glaube, das bringt mehr. Einverstanden?«
Marie fiel etwas ein. Genau, das wollte sie die Spiegel-Journalistin schon lange fragen.
»Wieso wussten Sie so früh schon, dass Karl unter den Toten des Anschlages war?«
Die Journalistin schien überrascht zu sein, dass Marie sie danach fragte. Sie dachte kurz nach, dann antwortete sie unbefangen: »Das war eigenartig. Normalerweise erfahren wir erst durch die offizielle Pressemeldung die Namen der Gefallenen. Aber diesmal hat der Referent des Staatssekretärs angerufen und uns den Namen Ihres Mannes genannt. Sie wollten unbedingt, dass schnell bekannt wird, dass er unter den Toten ist. Das hat uns auch stutzig gemacht …«
An diesem Abend musste Felix sich beim Zubettgehen sputen. Marie trieb ihn an, sie war in Eile.
Felix spürte das. »Gehst du noch weg, Mama?«
Sie ließ ihn abends nie allein. Das wusste er doch. »Ich will noch fernsehen.«
Felix richtete sich in seinem
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