Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
Willigen.«
Marie dachte daran, dass es gar nicht so lange her war, dass Karl zu dieser Koalition der Willigen gehört und ihre Sache für die seine erklärt hatte. Was war los mit ihm?
»Gestern Abend lief ein Beitrag auf Spiegel-TV. Sie haben herausgefunden, dass es bei der Trauerfeier in Berlin einen Sarg zu viel gegeben hat. Karl, du musst mir endlich erklären, was los ist.«
Karls Stimme wurde schneidend. »Du hörst ja, dass ich mit dir spreche. Ich lebe.«
»Sie haben dich beerdigt. In dem Sarg waren Sandsäcke. Ich habe hineingeschaut.«
»Lass dich nicht verrückt machen, Marie!«
Mare fragte sich, wer sich verrückt hatte machen lassen, sie oder Karl.
»Ich war bei diesem Anschlag nicht dabei. Das wissen die genau. Sie veranstalten dieses Theater, um davon abzulenken, was schiefgelaufen ist.«
»Was ist denn schiefgelaufen, Karl?«
»Alles.«
»Kannst du mir das nicht genauer sagen? Es wird immer schwieriger für mich. Ich muss auch Felix etwas sagen.«
»Sag ihm, dass ich ihn liebe …«
»Das wird nicht ausreichen.«
»… und dass ich dich auch liebe.«
»Ja, Karl. Aber ich muss wissen, woran wir sind. Wo bist du jetzt?«
»In einem Versteck.«
»Wo? In Kundus?«
»Ja. Es gibt hier Menschen, die mir helfen.«
»Was sind das für Menschen? Afghanen? Oder Deutsche? Warum bist du nicht mehr in eurem Feldlager?«
»Weil ich dort nicht mehr bleiben konnte. Mein Gewissen hat das nicht mehr mitgemacht. Täglich sterben hier mehr Menschen. Unschuldige Menschen. Zivilisten. So kann man keinen Krieg führen. So kann man keinen Krieg gewinnen.«
»Aber die Zivilisten sterben durch die Anschläge der Taliban.« Marie fühlte sich plötzlich sehr müde. Sie hätte gerne weitergeschlafen.
»Sag, wie geht es Felix?«
»Es geht ihm gut. Seit er weiß, dass du am Leben bist, geht es ihm gut. Er ist sehr … tapfer.«
Die Tür öffnete sich und Felix stürmte barfuß herein. Er sprang auf Maries Bett. »Ist das Papa?«
Marie nickte. Dann sagte sie zu Karl: »Willst du mit ihm sprechen?«
Sie gab Felix das Telefon.
»Hallo, Papa. Ich habe wach gelegen. Ich wusste, dass du anrufst. Ich will ein Handy. Dann kannst du mich auch in der Schule erreichen. Darf ich ein Handy haben?«
Marie hörte Karls Stimme. Er sprach ruhig und freundlich zu dem Jungen. Felix schickte seinem Vater einen Kuss und gab dann das Telefon an seine Mutter zurück.
»Du musst dir ein Kartenhandy besorgen, Marie. Alles andere ist zu gefährlich für mich. Hol dir so ein Ding und erzähle niemandem etwas davon! Marie, ich denke an euch und … Ich muss Schluss machen, sonst schnappen sie mich.«
Es knackte in der Leitung. »Karl!«, sagte Marie. »Karl!«
Das Gespräch war beendet.
Felix schlief in Maries Arm friedlich ein. Sie lag wach und schaute in die graue Wolkenmasse, die sich über der See zusammenzog. Wahrscheinlich würde es regnen, wenn sie Felix zur Schule brachte. Marie horchte auf den ruhigen Atem des Kindes.
Gerne hätte sie auch noch ein wenig geschlafen. Aber sie musste die ganze Zeit an Karl denken. Wo versteckte er sich? Was waren das für Leute? Vielleicht Entwicklungshelfer, die er aus den PRTs kannte – das waren Projekte, an denen Militärs und zivile Aufbautrupps zusammenarbeiteten.
Karl hatte ihr davon erzählt. Er hielt es für eine gute Idee; die Menschen sahen, dass die Bundeswehr half, Schulen und Brunnen zu bauen. Das machte es den Soldaten einfacher. Aber warum sollten die Entwicklungshelfer Karl verstecken? Er hatte ihr auch davon berichtet, dass sie nicht immer gut auf die Soldaten zu sprechen waren. Wenn Militär auftauchte, wurde ihre Arbeit erschwert, denn die Einheimischen machten die Entwicklungshelfer für die Toten verantwortlich, die die Amerikaner bei ihren Einsätzen hinterließen.
Aber was Marie noch mehr beschäftigte: Warum war Karl überhaupt auf der Flucht? Weil ihm sein Gewissen verbot, weiterhin in der Bundeswehr Dienst zu tun? Das schien Marie nicht sehr wahrscheinlich. Erstens konnte sie sich bei einem prinzipienfesten Menschen wie Karl nicht vorstellen, dass er seine Meinung so radikal ändern würde. Und zweitens: Wenn es so war, wenn er Skrupel bekommen hatte – warum hatte er sich dann nicht einfach nach Hause schicken lassen.
Dafür gab es Beispiele. Marie wusste davon. Die Bundeswehr konnte sich in Kundus keine Soldaten leisten, die an der Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes zweifelten. Solche Leute wurden sofort nach Deutschland zurückverlegt, wenn sie auffielen.
Weitere Kostenlose Bücher