Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
Interviews oder Hintergrundberichte sendeten, schaltete Marie einfach auf den Kulturkanal um, wo sie viel klassische Musik spielten.
Diesmal lief ein Gespräch mit dem brandenburgischen Innenminister über das Vorgehen der Polizei gegen rechtsradikale Gruppen, die, wie die Interviewerin behauptete, grölend durch die Fußgängerzone der ostdeutschen Städte marschierten. Marie hatte auf Usedom so etwas noch nie erlebt, und sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass es das wirklich irgendwo gab.
Marie wollte schon auf einen anderen Sender umschalten – da kamen die Nachrichten.
Die Bankenkrise.
Obamas Gesundheitspolitik.
Die Gewerkschaften wetterten gegen das letzte Konjunkturprogramm der Regierung.
Dann – Afghanistan. Endlich.
Die Amerikaner stockten ihre Truppen erneut auf. Diesmal um 30.000 Mann. Die Deutschen begrüßten das, wollten aber derzeit nicht mehr als die schon vorhandenen 4.500 Bundeswehrsoldaten aufbieten.
Und?
Nichts weiter.
Keine Särge aus Kundus. Die Recherche der Spiegel-TV-Journalistin Glassmaier war dem Verteidigungsministerium nicht mal eine Entgegnung wert.
Marie konnte es nicht glauben. Sie hatte mit aufgeregten Dementis und Schreierei im Bundestag gerechnet. Und nun geschah gar nichts. Nichts. So einfach war das.
Marie suchte nach anderen Sendern. Vielleicht hinkte ja das Berliner Inforadio in dieser Angelegenheit etwas hinterher. Doch auch andere Nachrichtenredaktionen hatten nur das zu berichten, was Marie bereits gehört hatte: Obamas Gesundheitspolitik und das Pokern um die verschiedenen Truppenstärken in Afghanistan.
Sie wollte schon ausschalten – da blieb sie bei einem Lokalsender hängen.
»Und nun ein Aufruf der Berliner Polizei. Wir bitten Sie um Ihre Mithilfe bei der Suche nach einem vermissten Berliner. Seit gestern ist der Geistliche Gunter Theobald verschwunden. Herr Theobald wohnt in Charlottenburg und wurde gegen Mittag das letzte Mal gesehen.«
Marie erstarrte. In Berlin war ein Mann verschwunden? Ein Geistlicher namens Gunter Theobald.
Sie drehte das Radio lauter.
»Herr Theobald ist 40 Jahre alt, groß und schlank. Der Gesuchte verließ gestern gegen 12 Uhr 30 seine Wohnung in der Krummen Straße mit einer Einkaufstasche. Zu einer Verabredung mit einem Kollegen aus dem Priesterseminar, an dem er bis vor seiner Verlegung nach Afghanistan beschäftigt war, ist er nicht erschienen. Da Herr Theobald dem Kollegen aus dem Seminar schon am Telefon etwas konfus und verängstigt erschien, hat der versucht, mit Herrn Theobald Kontakt aufzunehmen. Als ihm das nicht gelang, hat er sich an die Polizei gewandt. Wie die Polizei mitteilte, hat Herr Theobald keine Familie. Er ist erst kürzlich von einem längeren Einsatz als Militärgeistlicher zurückgekehrt. Gunter Theobald ist psychisch krank – die Polizei vermutet, dass er Hilfe braucht.«
Marie schaltete das Radio ab. Sie musste sich setzen.
Was war mit Gunter geschehen?
Hatte er sich abgesetzt?
Marie fiel das letzte Telefongespräch wieder ein, das sie mit ihm geführt hatte.
Ich bin hier nicht mehr sicher. Sie sind hinter mir her.
Das hatte Gunter gesagt. Und sie hatte ihm nicht geglaubt.
Felix läutete Sturm. Marie öffnete ihm, der Junge stürzte an ihr vorbei. Er zog im Laufen den Ranzen aus und ließ ihn in der Ecke des Flurs zu Boden fallen. Dann stürmte er nach oben in sein Zimmer.
»Schuhe aus!«, rief Marie hinter ihm her.
Felix rumorte in seinem Zimmer. Er schien etwas zu suchen.
Marie nahm seufzend seinen Ranzen auf und ging in die Küche. Sie stellte die Tasche auf den Tisch und öffnete die Klappe. Hefte und lose Blätter quollen ihr entgegen. Felix schaffte es einfach nicht, seine Sachen in Ordnung zu halten. Marie hatte alles versucht, auch Karl hatte seinem Sohn vermitteln wollen, dass die Ordnung im Schulranzen wichtig war, weil die Lehrer darauf achteten. Beide waren damit gescheitert. Felix blieb schlampig.
Karl, dem Soldaten, hatte das einiges ausgemacht, aber er hatte es sich nicht anmerken lassen.
Marie hatte sich damit abgefunden. Und wenn sie ehrlich war: Dass Karl Felix auch nicht zur Ordnungsliebe hatte umerziehen können, machte es ihr einfacher. Sie musste sich keine Vorwürfe machen. Also ertrug sie es – und räumte hinter ihm her. So wie sie jetzt die Hefte aufeinanderstapelte, damit sie besser in den Ranzen passten und die Klappe auch wieder zuging.
Ein blauer Prospekt lag zwischen dem Mathe- und dem Nawi-Heft. Marie faltete es auseinander. Es waren die
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