Allem, was gestorben war
öffnete die Schublade und holte ein abgegriffenes schwarzes Adressbuch hervor. Dann ging er zurück zum Telefon.
Nach sieben Klingelsignalen wollte er auflegen, als entfernt und schwach »Holte« im Hörer ertönte.
»Hier ist Jonathan Wide.«
»Was?«
»Jonathan Wide, ehemaliger Inspektor in deiner Armee.«
»Ich erinnere mich an dich, Wide.«
Der Mann sprach wie durch einen Trichter. Was war in den vergangenen Jahren mit ihm passiert?
»Ich muss dich sprechen.«
Am anderen Ende war es still.
»Hallo, Holte .«
»Ich bin noch da. Warum willst du mich sprechen?«
Warum wollte er einen Mann sprechen, der der Grund dafür war, dass er die Polizei verlassen hatte? Eine gute Frage. Holte wusste die Antwort selber.
»Du kennst die Antwort.«
»Bist du voll, Wide?«
»Möglicherweise voller Wissen. Möchtest du, dass ich dir jetzt ein paar Sachen erzähle, übers Netz?«
»Verdammt, ich weiß nicht, wovon du redest.«
Wieder war es still.
»... aber von mir aus, komm her, du kennst ja die Adresse.«
Er wusste, dass er ihn hatte.
Wide parkte vorm »Nerfertiti« und ging über die Brücke des Hafenkanals. Die Hitze war schlimmer denn je. Das Atmen fiel schwer, die Luft klebte wie nasse Watte. Das letzte Sightseeingboot passierte unter der Brücke. Das Mädchen am Bug erzählte von der Stadt. Er bewunderte ihren Enthusiasmus und die Neugier der Passagiere. Ihm fiel ein, dass er nie eine Sightseeingtour mit seinen Kindern unternommen hatte.
Plötzlich und intensiv hatte er Sehnsucht nach ihnen . Er wollte nicht Vater in einer Serie von Begegnungen und Abschieden sein.
Niemand öffnete auf sein Klingeln. Er drückte wieder auf den Knopf, aber die Laute verhallten in der Leere dort drinnen. Schließlich griff Wide nach der Türklinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er betrat eine leere, geräumige Diele. Das Bild der üblicherweise aufgereihten Kleidung auf Bügeln und in Regalablagen fehlte. Da hing eine dünne graue Jacke, zwei Paar Schuhe darunter, als ob der Bewohner vierbeinig wäre. Die Diele war dunkel, und er konnte nirgends eine elektrische Lichtquelle entdecken. »Komm herein, Wide.«
Die Stimme ertönte wie durch einen Lautsprecher, Wide schloss die Tür hinter sich, ging zum anderen Ende der Diele und weiter nach links in ein Zimmer, das in weichem Licht lag, gestreift und schwach dort, wo es durch Jalousienlamellen drang. Holtes Figur zeichnete sich gegen das Fenster ab. Sein Gesicht konnte Wide nicht sehen.
»Setz dich.«
Wides Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel, er sah den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches und setzte sich Holte gegenüber. Auf dem Schreibtisch lagen keine Papiere. So war es früher auch gewesen, der Polizeidirektor hatte seinen Schreibtisch sauber gehalten. Wide hatte das immer irgendwie bewundert.
Er sah die Polizeiwaffe, die vor dem Mann lag.
»Hier sind nur wir - die Walther und ich.«
»Du hast nicht Schritt gehalten mit der Modernisierung der Polizei.«
»Ich trenne mich nie von der Walther.«
»Das verstehe ich. Die passt zu dir. Weißt du, dass der Name aus dem Deutschen kommt und Macht und hier bedeutet?«
»Bist du gekommen, um mit mir Deutsch zu sprechen, Wide?«
»Nein, ich bin gekommen, um Dänisch zu sprechen.«
Wide hatte sich jetzt an das Licht gewöhnt, sodass er ein kleines Zucken im Gesicht des kräftigen Mannes sah, als ob die Nerven um das rechte Auge nicht mehr den Signalen des Gehirns gehorchten, als hätten sie eine eigene Leitungszentrale gebildet.
»Jetzt verstehe ich, warum du mich immer gehasst hast.«
Die Zuckungen in Holtes Gesicht hatten aufgehört.
»Das musst du mir erklären.«
»Ich hab ein wenig Quellenforschung betrieben. Früher schien mir das nicht aktuell zu sein. Aber die Ereignisse in der letzten Zeit haben mich dazu gebracht. Fredrikshavn -im Krieg. Irgendwie waren wir beide beteiligt.«
Sven Holte hatte sich vorgebeugt.
»Dein verdammter Großvater.«
»Das Kriegsarchiv von Ärhus hat alle Namen. Ich war dort.«
Wide sah auf die Waffe. Wollte Holte ihn erschrecken? Wollte er etwas anderes demonstrieren?
»Dann weißt du, was passiert ist. Und weiter?«
»Du hast es nie vergessen können, Holte ...«
»Wie kann man so was vergessen? Meinen eigenen Vater?«
»Warum jetzt?«
»Warum was?«
»Du hast mich bedroht und das deute ich jetzt immer mehr anders. Wir sprechen hier von kriminellen Taten. Niemand anders als du kann dahinter stecken, ich glaube nicht, dass es irgendjemand anders
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