Allem, was gestorben war
Künstlerwerkstatt und gingen die wenigen Meter zum Künstlercafe, das in einem alten gelbweißen Lagergebäude untergebracht war. Die abblätternde Fassade illustrierte Göteborgs frühere Rolle als Seefahrtstadt.
»Was ist das da eigentlich?«
Sie war vorm Cafe stehen geblieben und zeigte nach Westen, zu dem zwanzig Meter hohen Ziegelsteinskelett, das unter der Älvsborgsbrücke schwankte. Die zerbrochenen Glasscheiben wirkten wie ein Grinsen.
»Das ist das alte Dampfkesselhaus der Fabrik und gleichzeitig das Herzstück des Kulturprojekts Roter Stein.«
»Lass uns mal dorthin gehen.«
Sie gingen auf das Haus zu, an den aufgereihten Hobbyanglern vorbei, und betraten das Erdgeschoss, dessen Deckenhöhe vier Meter betrug.
»In dem Stockwerk drüber gibt es einen riesigen Saal mit einer Deckenhöhe von zwölf Metern. Es gibt Pläne, das Ganze in ein Kunstmuseum zu verwandeln. Manche Künstler arbeiten schon daran.«
»Gibt es denn Geldmittel für so was?«
»Nein. Außerdem gibt es noch einen Vorschlag, Büros darin unterzubringen, mit neuen Gebäuden und unterirdischen Parkplätzen.«
»Gibt es Geldmittel für so was?«
»Klar. So ist das doch immer. Das Volk und die Kunst kommen nicht ran. In diesem Fall nicht in die Nähe des Wassers.«
»Muss ein schöner Ausblick von dort oben sein.«
Das war es. Sie stiegen die Treppen hinauf und wurden belohnt: Man konnte bis Angered im Norden sehen und das Leuchtfeuer von Vinga, dort, wo das Meer begann.
»Und wenn man vom Meer kommt, trifft man hier auf die Stadt«, sagte Manfred Bergman und küsste Linn Svanberg mitten auf den Mund.
Er sah die »Stena Danica« die Brücke passieren und er hörte schwach die entzückten Rufe und das Lachen der Passagiere an Deck. Die Laute, die der Wind herantrug, klangen sie nicht wie das Krächzen von Krähen?
Die Rolltreppe zur Abfahrtshalle hinauf war voller Menschen. Große Teile der schwedischen Bevölkerung schienen beschlossen zu haben, ausgerechnet an diesem Morgen nach Fredrikshavn zu fahren, ausgerechnet mit der 9.30-Uhr-Fähre. Menschen, die die halbe Nacht von Karlskrona, Hagfors, Eksjö und Borensberg hierher gefahren waren.
Wide ging aufs oberste Sonnendeck. Drei Jagdflugzeuge zeichneten weiße Linien in den blauen Himmel, wie geheime Zeichen für eine ganze Welt. Er ließ den Blick weiter nach Osten gleiten. Dort ragte die erst kürzlich fertig gestellte Oper auf, hoch, aber nicht hoch genug für die Partituren, die die Jets dort oben in den Himmel schrieben. Wide freute sich auf die neue große Oper - je mehr und größere Heiligtümer für die Opernmusik, umso besser. Aber seine Freude wurde geschmälert durch die flüchtigen Diskussionen profilierungssüchtiger Männer der feinen Kultur. Die neue Oper sollte eine Kathedrale werden, aber Wide befürchtete, es würde eine Kathedrale ohne Seele.
Er hatte Hunger. Als er in der Schlange im Restaurant der »Stena Jutlandica« stand, konnte er kaum an etwas anderes denken als an das zu erwartende Frühstück. Ihm war nicht ganz klar, warum er eigentlich nach Dänemark fuhr. Er musste bei der Überfahrt darüber nachdenken.
Wide bekam einen Tisch in einer Nische, etwas abgelegen rechts vom Eingang. Er wartete, bis sich die Schlange ein wenig aufgelöst hatte, und ging dann zu dem kleineren Tisch in der Nähe, nahm sich einen Teller und bediente sich. Er aß lange und bedächtig und nickte zwei Frauen in den Sechzigern zu, die sich an den Nachbartisch setzten. Die eine holte etwas zu essen, während die andere nach einem raschen Blick auf Wide die Taschen bewachte.
Nach dem Essen trank er zunächst eine Tasse Kaffee, dann noch eine. Er zögerte einen Moment vor den Kopenhagenern, spürte jedoch eine leichte Übelkeit und ließ es bleiben.
Das Restaurant leerte sich. Eine Gruppe von fünf geistig Behinderten und drei jungen Pflegerinnen blieben. Die fünf aßen langsam und mit angestrengter Konzentration. Ein kleiner Herr erhob sich von seinem Stuhl, ging herum und schien alle zu bedienen . Der kleine Mann lächelte und führte seine Bewegungen mit verhaltener Selbstironie aus.
Vorher auf der Rolltreppe hatte Wide hinter zwei Männern gestanden, die offenbar wahnsinnig waren. Sie hatten den Kopf immer wieder hin und her geworfen. Bei ihnen war niemand gewesen, der sich um sie kümmerte.
Im letzten Jahr hatten die psychiatrischen Kliniken sich immer mehr geleert. Die Patienten wurden in eine schmerzhafte Integration in die schwedische Gesellschaft gezwungen. In
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