Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)
aufgestellten Figuren daneben. Er nahm einen Bauern und machte einen Eröffnungszug, dann sah er sich weiter um. Ein mit roter Tinte befleckter Federhalter lag neben einem offenen Übungsheft.
Er unterbrach seinen Rundgang und blätterte eine Seite des Lexikons auf, das neben dem Übungsheft lag. Griechisch! Die Tür hinter ihm öffnete sich, ließ jedoch nicht Miss Grey ein, sondern ihre Freundin, die Gouvernante. „Miss Scott, guten Tag. Sie haben mich beim Lesen Ihres, wie ich vermute, griechischen Lexikons ertappt.“
„Ja, Mylord.“ Sie stand da und betrachtete ihn unter geraden, dunklen Brauen hervor. Er erwartete Ablehnung, stattdessen stellte er fest, dass er ihren Blick nicht zu deuten vermochte. „Ich unterrichte sowohl Latein als auch Griechisch, außerdem natürlich die modernen Sprachen.“
„Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie Jungen unterrichten“, bemerkte er, eher, um die Unterhaltung in Gang zu halten, als um sie zu provozieren. Überrascht bemerkte er das Aufflackern von Ärger in ihrem Blick.
„Das tue ich nicht. Zurzeit unterrichte ich nur Mädchen. Vielleicht denken Eure Lordschaft, dass das weibliche Gehirn nicht die Kapazität für alte Sprachen hat?“
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, gab er zu. „Obgleich ich nicht sehen kann, welchen Nutzen eine Frau aus diesem Wissen ziehen könnte.“
„Außer geistiger Disziplin und einem verbesserten Verständnis moderner Sprachen sowie der Geschichte der modernen Kunst?“, fragte sie frostig.
„Schön und gut, aber wenn ein Mädchen heiraten soll …“
„Das gilt nicht für jede von uns“, informierte ihn Miss Scott. „Ich sehe keinen Grund, warum eine unverheiratete Frau ihren geistigen Horizont aus diesem Grund beschränken sollte. Auch nicht, warum eine verheiratete Frau nicht gebildet sein darf.“ Ihr Ausdruck wurde eine Nuance weicher. „Ohne Zweifel glauben Sie, dass eine verheiratete Frau ihre Intelligenz zu nicht mehr nutzt, als den Haushalt zu führen, nicht wahr? Nicht, dass die Haushaltsführung so leicht wäre, wie die meisten Männer annehmen.“
Nick dachte an seine Mutter, die jedes Mal sanft gelächelt hatte, sobald ein Problem auftauchte. „Dein Papa weiß, was zu tun ist“, war ihre immer gleiche Antwort gewesen. Seit Kurzem hieß es: „Was immer du sagst, Nicholas, mein Lieber.“ Dann gab es noch seine Tante, zweifellos intelligent, lebhaft, voller Energie – doch auch sie war absolut zufrieden damit, ihre sämtlichen geschäftlichen Angelegenheiten in seinen Händen zu wissen.
„Es gibt keinen Grund für eine Dame, sich mit schwierigen Dingen zu befassen …“, fing er an.
„Aber nicht alle von uns wollen hilflose Marionetten sein“, erwiderte eine andere Stimme sanft. Miss Grey betrat hinter ihrer Freundin das Zimmer. „Sie wollten mich sprechen, Mylord?“
Nick trat einen Schritt vor, stellte fest, dass sein Fuß festhing und blickte nach unten. Er stand auf einem Stück Stoff. Er bückte sich danach und hob es auf. Unschwer konnte man es als Damenunterwäsche erkennen. Keine der beiden jungen Damen war geneigt, ihm aus seinem Dilemma zu helfen, also faltete er das Kleidungsstück ordentlich zusammen und legte es auf den Tisch. Mit vollkommen ausdruckslosem Gesicht blickte er anschließend auf und stellte fest, dass er in Miss Scott seinen Meister gefunden hatte, was Ausdruckslosigkeit betraf. Ihre Miene verriet nicht im Mindesten, ob sie gesehen hatte, welch intimes Kleidungsstück er in Händen gehalten hatte. Miss Grey dagegen sah aus, als würde sie sich mühsam ein Lachen verbeißen. Ihre grünen Augen funkelten amüsiert ob seiner Notlage, und ihre Unterlippe klemmte fest zwischen den Zähnen.
Der Gedanke, diese Fülle mit seinen eigenen Zähnen zu berühren, durchfuhr ihn wie ein erotischer Blitzschlag. Ein Funke davon musste sich in seinem Gesicht gezeigt haben, denn sofort klärte sich ihr Blick, und ihre Augen wurden groß. Er fragte sich, ob sie seine Miene korrekt gedeutet hatte und dasselbe dachte. Dann war der Moment gegenseitigen Erkennens vorüber. Sie winkte ihn zum Sofa.
„Bleiben Sie zum Tee, Mylord?“
„Nein, danke, ich überbringe lediglich eine Botschaft von Lady Parry.“
Talitha Grey beantwortete seine Fragen mit einer Offenheit, die ihn erneut an ihre zuvor so eingeschränkten Lebensumstände erinnerte. „Wie viele Schrankkoffer? Na, einen, Mylord, und einen Reisekoffer.“
„Und ein paar neue
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