Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)
dieser Mann die schrecklichste Wirkung auf mich hat. Hast du je erlebt, dass ich mich nicht mehr halten konnte vor Wut? Habe ich nicht immer versucht, ruhig zu bleiben und alles philosophisch zu betrachten, wenn etwas schiefging? Habe ich mich je für Lug und Trug hergegeben, um jemanden zu verärgern? Kann ich nachts noch schlafen?“
„Nein, ja, nein und eigentlich schon“, erwiderte Zenobia lächelnd. „Also, was hat er getan? Hat er versucht, dich zu küssen?“
Talitha funkelte sie an. „Ich wünschte wirklich, du würdest mit dieser Hänselei aufhören, Zenna. Erst fragst du, ob er mir einen Antrag gemacht hat, jetzt soll er mich geküsst haben. Dieser unmögliche Mensch misstraut mir, das ist alles. Er weiß, dass ich etwas zu verbergen habe und lässt mich eifrig durchleuchten. Und jetzt behauptet er auch noch, ich wäre hinter seinem Cousin her.“
„Lord Parry? Aber der ist doch bestimmt erst sechzehn, oder?“
„Er ist zwanzig, aber sehr jung und sehr charmant für einen Zwanzigjährigen. Ich habe ihn am Piccadilly getroffen, und er hat mich zu einem Eis eingeladen. Wir haben uns unterhalten, bis, wie könnte es anders sein, Nicholas Stangate auf uns niederkam wie der Zorn Gottes.“
„Tallie!“
„Tut mir leid, ich wollte nicht lästern. Er ist wie einer dieser griechischen Götter. Du weißt schon, Donnerkeile und Blicke, die Menschen in Stein verwandeln“, ereiferte sie sich.
„Ich glaube, jetzt bringst du die griechischen Mythen aber ziemlich durcheinander. Du brauchst erst mal einen Tee.“ Zenobia steckte den Kopf aus der Tür und rief nach Annie, dann kehrte sie zurück und setzte sich.
„Ich glaube nicht, dass ich etwas trinken kann, vielen Dank. Ich bin noch voll von Zitroneneis und heißer Schokolade.“ Sie bemühte sich, nicht mehr über den Zwischenfall bei „Gunter’s“ zu sprechen, aber wie ein entzündeter Zahn brachte er sich ständig wieder in Erinnerung. „ Warum sollte er etwas so Dummes denken? William ist fünf Jahre jünger als ich.“
„Vielleicht ist er eif…“ Zenobia unterbrach sich mitten im Wort. „Vielleicht ist er nur übervorsichtig“, erklärte sie beruhigend. „Erzähl mir von ‚Gunter’s‘. Ich wollte schon immer mal das Eis dort probieren.“
8. KAPITEL
E s gab einmal eine Zeit – kann es erst ein paar Tage her sein? –, da bestand meine einzige Sorge darin, genug Geld für meinen Lebensunterhalt zu verdienen“, klagte Talitha, während die Droschke sich ihren Weg in Richtung Oxford Street bahnte. „Jetzt muss ich mir über meinen Platz in der Gesellschaft Gedanken machen – oder besser über dessen Nichtvorhandensein; ich muss mir überlegen, wie ich eine unmöglich hohe Geldsumme weise investiere, wie ich einen schnüffelnden, aristokratischen Alleinherrscher davon abhalte, meine Geheimnisse aufzudecken, und wie ich dich dazu bewegen kann, mir zu erlauben, dir ein oder zwei Kleider zu kaufen.“
„Tallie, ich kann einfach keine teuren Geschenke annehmen …“, protestierte Zenobia zum dritten Mal an diesem Morgen.
„Ich will dir gar keine teuren Geschenke machen – nur ein einziges Abendkleid, damit wir beide zusammen zu Gesellschaften gehen können. Bitte , Zenna. Ich brauche deine Unterstützung. Lady Parry ist so gütig, aber das ist nicht das Gleiche wie eine Freundin in meinem Alter. Außerdem würde es mir so viel Freude machen, dir etwas zu schenken.“ Hoffnungsvoll lächelte sie ihre Freundin an, die seufzte und dann zurücklächelte.
„Na gut, und vielen Dank, Tallie. Es wäre sehr nett, ein schönes Abendkleid zu besitzen, das muss ich zugeben. Aber was die anderen Kleider betrifft, von denen du sprachst, das ist wirklich zu viel.“
„Geschäftsausgaben“, erklärte Talitha fest. „Wir können es als Geschäftsausgaben verbuchen. Du brauchst ein paar gute Alltagskleider, um Gespräche mit Lehrern und Eltern zu führen. Wir wollen doch nur das Beste für unsere Schule, nicht wahr?“
Als Zenobia schließlich resignierend ausrief, dass mit Talitha zu diskutieren erschöpfender sei als ein Zimmer voller Sechsjähriger zu unterrichten, hielt die Droschke vor dem Pantheon Bazaar. Talitha stieg aus, und Zenobia folgte ihr. „Wir fangen hier an, dann dachte ich an Hardin & Howell, Stag & Mantles, danach Clark & Debenhams.“ Sie grinste Zenobia an, die ob dieser beeindruckenden Aufzählung eher besorgt dreinblickte. „Am Nachmittag sind wir dann bei
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