Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)
könntest, wie viele Koffer sie hat, kann Rainbird deren Transport organisieren.“ Sie hatte sich auf Zehenspitzen gestellt, um ihm die Wange zu küssen. „Vielen Dank, mein Lieber.“ Bevor er fragen konnte, warum eine Nachricht nicht denselben Zweck erfüllen konnte, war sie bereits wieder fort.
Jetzt, wo er schon einmal dort war, konnte er auch gleich die Gelegenheit ergreifen, Miss Grey wieder etwas versöhnlicher zu stimmen, nachdem sie bei ihrer letzten Begegnung so aufgebracht entschwunden war. Er glaubte selbst nicht recht, dass sie romantische Gefühle für den jungen William Parry hegte, war indes überzeugt, dass es besser war, ihr diese Überlegungen vorzuenthalten. Denn falls sie zu den Frauen gehörte, die sich durch Widerstand herausgefordert fühlen, würde sie vielleicht aus einer Laune heraus doch versuchen, das Interesse des Jungen zu wecken. Und William war noch zu jung, um sich von einer älteren Frau das Herz brechen zu lassen, entschied Nick. Bequemerweise vergaß er dabei seine eigene Einführung in die Kunst der Liebe im zarten Alter von siebzehn Jahren von einer wunderschönen, weltgewandten Frau, die zehn Jahre älter gewesen war als er.
Ein äußerst klein gewachsenes Mädchen mit Stupsnase, Sommersprossen und einer zu großen Schürze öffnete die Haustür und setzte eine bestürzte Miene auf. „Oh, Sir! Miss Grey? Oh, ja, Sir, ich sage ihr, dass Sie da sind, wenn Sie bitte so lange im Wohnzimmer warten möchten, Sir.“
Schwungvoll zog sie die Tür zum Wohnzimmer auf, um ihn einzulassen, schien sich dann zu erinnern, dass sie nach seinem Namen hätte fragen müssen, quiekte kurz ängstlich auf und schloss die Tür hinter ihm. Nick fand sich in einem gemütlichen, leicht verwohnten Zimmer wieder, dem der unbestimmbare Hauch von Behaglichkeit und Weiblichkeit anhaftete. Letzterer Eindruck wurde verstärkt durch das bezaubernd hübsche Mädchen mit den großen blauen Augen und der Flut blonder Locken, das auf dem Sofa saß. In einem Haufen neben ihr lag Unterwäsche der frivolsten, intimsten und hauchzartesten Art.
Mit – wie Nick es schien – bewundernswerter Schnelligkeit stopfte sie die Wäsche unter ein Kissen und stand auf, wobei sie Nadel und Faden auf den Tisch neben sich legte. „Verzeihung, Sir“, erklärte sie, wobei sich eine leichte Röte auf ihre Wangen stahl. „Annie hat noch nicht gelernt, wie man sich als Empfangsdame zu verhalten hat. Leider vergisst sie manchmal, Besucher vorher anzukündigen.“
„Nicholas Stangate. Ich komme für Miss Grey. Und Sie sind, wie ich vermute, Miss Amelie LeNoir? Verzeihen Sie bitte die Störung.“ Es war nicht unangenehm, Miss LeNoir zu stören, überlegte er, als er die ungekünstelte Freude in ihren Augen sah, dass er wusste, wer sie war. Sie hatte eine liebliche Gestalt mit sanften Rundungen, verborgen in einem überraschend bescheidenen Alltagskleid. Ihr Mund war leicht geöffnet. Überhaupt nicht unangenehm.
„Oh, woher wissen Sie das? Mylord“, fügte sie hastig hinzu und knickste.
„Sie sind mir beschrieben worden“, erklärte Nick einfach und ergötzte sich an der tiefen Röte, den niedergeschlagenen langen Wimpern. Für einen Mann, der stets dunkelhaarige Frauen bevorzugt hatte, schien es in seinem Leben plötzlich von Blondinen zu wimmeln. Ein angenehmer Wechsel.
„Ich … ich sollte besser mal nachsehen, ob ich Tal… Miss Grey finde, Mylord. Auf Annie kann man sich einfach nicht verlassen. Wollen Sie sich nicht setzen?“ Sie zeigte auf das Sofa, erinnerte sich an ihre Stopfsachen, fegte sie hastig unter dem Kissen hervor und in ihre Arme und eilte damit hinaus.
Nick grinste. Diese bezaubernde, erfrischende junge Dame, die gerade hinausgeflattert war, war entweder eine außergewöhnlich gute Schauspielerin oder das genaue Gegenteil – eine züchtige Opernsängerin, genau, wie Talitha Grey es gesagt hatte. Statt sich auf den angebotenen Platz zu setzen, unterzog er das Zimmer einer näheren Betrachtung. Es war eine für einen Mann seltene Gelegenheit, einen unbeobachteten Blick in die Welt der Frauen zu werfen, in ihren Alltag.
Ein ordentlicher Stapel Rechnungsbücher lag neben einem Spieß mit Quittungen und Rechnungen. Ein Korb voller Zierbänder, Hutbänder und künstlicher Blumen stand neben einem Nähkästchen und einem großen, mit Stecknadeln gespickten Nadelkissen. Ein Stapel Bücher und ein paar Modezeitschriften befanden sich auf einem Regal, ein Schachbrett mit
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