Aller Heiligen Fluch
aushalten, man schaut auf einen künstlichen See, aber an diesem grauen Novembermorgen wirkt alles nur trostlos und vernachlässigt. In der Eingangshalle blättert die Wandfarbe ab, und über den Haupteingang hat jemand gekritzelt: «Tu, der du eintrittst, alle Hoffnung ab.» Ruth steigt die zwei Stockwerke hinauf bis zu ihrem Büro und registriert, dass die Neonröhren schon wieder flackern. Bis Mittag wird sie mit Sicherheit Kopfschmerzen haben. Sie öffnet ihre Bürotür mit der Schlüsselkarte und setzt sich an den Schreibtisch.
Ruths Büro ist winzig, es bietet gerade genug Platz für einen Schreibtisch und einen Besuchersessel. Eine Wand steht mit Bücherregalen voll, von der anderen geht ein Fenster hinaus auf das Campusgelände. Im Sommer ist es zu heiß, im Winter zu kalt, doch Ruth liebt dieses Zimmerchen. Hier darf sie Doktor Ruth Galloway sein, Fachfrau für forensische Archäologie, und nicht Kates Mum, die ständig zu spät dran ist, oder Ms. Galloway, alleinerziehende Mutter. «Das ist wirklich mutig von Ihnen», hat unlängst jemand zu ihr gesagt, «sie ganz allein großzuziehen.» Was bleibt mir denn anderes übrig?, hätte Ruth darauf gern erwidert. Soll ich sie vielleicht im Wald aussetzen und hoffen, dass ein freundliches Wolfsrudel sie adoptiert? Aber natürlich ist ihr klar, dass sie eine Entscheidung getroffen hat, schon ganz am Anfang. Und sie steht zu dieser Entscheidung. Sie hat einfach gemerkt, dass sie unbedingt ein Kind will. Und selbst wenn sie ihn nie wiedersieht, wird sie Nelson zumindest dafür immer dankbar sein.
Nelsons Geburtstagsgeschenk war ein riesengroßer Plüschaffe. Ruth hat ihn lange betrachtet und versucht, in dem hellen Acrylfell und den Knopfaugen irgendeine verborgene Botschaft zu entdecken. Warum ein Affe? Warum überhaupt ein Geschenk? Hat Michelle nicht jeglichen Kontakt untersagt? Und wann hat Nelson ihn draußen deponiert? Als die Gäste gerade «Happy Birthday, liebe Katie» sangen? Als Cathbad mit den Kindern durch den Garten tobte? Der Gedanke, dass jemand einfach so vor ihrem Haus vorfahren, etwas vor der Tür ablegen und wieder verschwinden kann, behagt ihr nicht. Zumal so etwas nicht zum ersten Mal passiert.
Seufzend macht Ruth sich daran, ihre Post zu öffnen. Im November ist immer viel zu tun, es gibt Beurteilungen zu schreiben, Hausarbeiten zu benoten. Mehr als die Hälfte des Herbst-Trimesters haben sie bereits hinter sich. Sie muss sich auch noch ihr Vorlesungsskript für später durchlesen, aber zuallererst braucht sie einen Kaffee. Vielleicht auch einen Donut. In der Cafeteria gibt es einen durchaus akzeptablen Espresso, die Kunst besteht nur darin, dorthin zu kommen, ohne Phil in die Arme zu laufen. Ruth beschließt, es zu riskieren. Wahrscheinlich ist er ohnehin noch zu Hause und schläft sich aus, nach der Konferenz letzte Woche.
«Ruth!»
«Hallo, Phil.»
Auf frischer Tat ertappt vor der Bürotür, das Kleingeld für den Kaffee schon in der Hand.
«Gehst du einen Kaffee trinken?»
«Ähm …»
«Gute Idee. Ich komme mit. Wobei ich ja zurzeit keinen Kaffee trinke. Damit sich Shona nicht so allein fühlt.»
Als Phil im Jahr zuvor seine Frau nach fünfzehnjähriger Ehe verlassen hat, um zu Shona zu ziehen, hatten die wenigsten damit gerechnet, dass die Beziehung von Dauer sein würde. Selbst Shona wirkte ein wenig geschockt, als sich ihr verheirateter Liebhaber plötzlich in einen vollwertigen Lebenspartner verwandelte. Ruth war sich sicher, dass Shona das Interesse an Phil verlieren würde, sobald sie ihn von seiner Frau losgeeist hatte (es wäre nicht das erste Mal gewesen), doch dann wollte Shona plötzlich mit aller Gewalt ein Baby. Vielleicht ja, weil Ruth gerade Kate bekommen hatte; vielleicht hatte Shona aber auch gemerkt, dass die biologische Uhr, die sie jahrelang auf stumm geschaltet hatte, nicht so einfach zu ignorieren war. Was immer der Grund sein mochte: Sie wollte ein Kind, und Phil erfüllte ihr diesen Wunsch. Inzwischen ist Shonas Schwangerschaft sein einziges Gesprächsthema. Offenbar glaubt er, bei Ruth mit jedem noch so kleinen Sodbrennen und jedem geschwollenen Knöchel auf reges Interesse zu stoßen. Ob er bei seinen ersten Kindern auch so war? Damals kannte Ruth ihn ja noch nicht, sie würde aber einiges dagegen wetten. Phil stürzt sich auf diese späte Vaterschaft, genauso wie auf jeden anderen neuen Trend, mit welpenhafter Begeisterung. Irgendwie findet Ruth das auch ganz süß; Gespräche über Hämorrhoiden
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