Aller Heiligen Fluch
ungewöhnlich ist, aber es kann natürlich sein, dass er Geschwister hatte, die im Säuglingsalter gestorben sind. Jetzt frage ich mich natürlich, ob es vielleicht einen Sohn gab, der gestorben ist und dessen Identität Augustine auf irgendeine Weise angenommen hat.»
«Das werden wir wohl nie erfahren.»
«Vermutlich nicht. Hugh schreibt ausführlich darüber, wie fromm Augustine war, aber es gibt keine äußere Beschreibung und keinerlei Hinweis auf seine sexuelle Orientierung.»
«Hört sich an, als wäre Prior Hugh ein großer Fan gewesen.»
«Er war fast so etwas wie sein Hagiograph. Ich glaube, er betrachtete Augustine tatsächlich als Heiligen. Er schreibt viel über seine guten Taten, seine Visionen, seine Kämpfe mit dem Teufel.»
«Kämpfe mit dem Teufel?»
«Hugh zufolge hat der Teufel Bischof Augustine ununterbrochen zugesetzt. Manchmal war er morgens grün und blau, weil er die ganze Nacht mit dem Teufel gerungen hat. Augustine muss grauenvolle Träume gehabt haben. Seine Haushälterin hörte ihn oft vor Schmerzen schreien, aber es war keinem erlaubt, seine privaten Gemächer zu betreten.»
«Vielleicht, weil man sonst sein Geheimnis gelüftet hätte», mutmaßt Ruth.
«Möglich. Prior Hugh berichtet außerdem, Augustine habe einen Leibdiener abgelehnt. Er sieht das als Beleg für seine Bescheidenheit, aber es kann natürlich auch andere Gründe gehabt haben.»
«Gibt es sonst noch etwas über Augustines Privatleben?»
«Nein. In seinem Testament hat er genügend Geld für sein Seelenamt hinterlassen, mehr weiß man nicht. Prior Hugh schreibt fast nur über Augustines geistliches Leben, seine Qualen und Visionen. Das liest sich teilweise recht apokalyptisch.»
«Ich habe etwas von einer Schlange gehört», sagt Ruth.
«Nun, die Statue in der Kathedrale zeigt Bischof Augustine, wie er eine Schlange zertritt. Es wird vermutet, dass sie für den Teufel steht, und Hugh berichtet, bei einer von Augustines zahlreichen Teufelsaustreibungen eine große Schlange am Himmel gesehen zu haben, einen ‹gewaltigen Wurm›. Hugh glaubte, das sei der Teufel gewesen, der gerade überwältigt wurde.»
«Kennen Sie Ted, den Feldarchäologen? Er behauptet, auf dem Sarg liege ein Fluch. Wer immer ihn öffnet, wird von einer riesigen Schlange geholt.»
Janet nickt. «So steht es in Hughs Aufzeichnungen. Man ging ja immer davon aus, dass Augustine in der Kathedrale beigesetzt ist, und dort steht ein Stein mit der Inschrift ‹Friede meinem Gebein› und einer Warnung vor dieser Schlange. Aber als man dort um 1830 grub, wurde festgestellt, dass die Gruft leer ist. Kein Gebein weit und breit.»
«Weil Augustine in der anderen Kirche beigesetzt war? St. Mary Outside the Walls?»
«Möglich wäre es. Es gab familiäre Verbindungen zu St. Mary. Augustine wurde dort getauft, und man vermutet, dass seine Eltern auf dem dortigen Friedhof liegen. Aber vielleicht hat er auch genau deshalb verfügt, in St. Mary beigesetzt zu werden, damit nach seinem Tod niemand seine Leiche untersucht.»
«Wann ist Augustine gestorben?»
« 1362 , in dem Jahr, als der große Kirchturm dem Feuer zum Opfer fiel. Prior Hugh hielt das natürlich wieder für ein Zeichen: Der Teufel nahm Rache. Und die Kathedrale hatte danach tatsächlich ein paar harte Jahre zu überstehen. 1381 fand der Bauernaufstand statt, und Augustines Nachfolger, Bischof Henry Despenser, der auch der ‹kriegerische Bischof› genannt wurde, führte die Truppen an, die die Bauern niederschlugen.»
«Wie barmherzig.»
«Die damaligen Bischöfe waren nicht unbedingt barmherzig, teilweise nicht einmal sonderlich gläubig. Meist waren es die jüngeren Söhne von Adligen, die nur auf Macht oder Geld aus waren. Das macht Bischof Augustine ja so interessant. Er war ein wahrer Geistlicher. Sicher, heute lachen wir über all die Visionen und die Kämpfe mit dem Teufel, aber Augustine war offensichtlich eine gequälte Seele. Und ein echter Wohltäter für die Armen. Er hat die Almosen verdoppelt, die die Mönche verteilten, und Schulen und Hospitäler gegründet. Vielleicht war er ja wirklich ein Heiliger. Es gibt Legenden, dass Augustine Kranke heilen und an zwei Orten gleichzeitig sein konnte. Hugh erinnert sich, ihn am Marienaltar beten gesehen zu haben, während er offenbar zugleich einer alten Frau im Dorf die Letzte Ölung erteilte.»
Ruth lauscht mit einer trancehaften Faszination, wie sie sie aus den besten Vorlesungen während ihrer Studienzeit kennt. Den Sarg,
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