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Aller Heiligen Fluch

Aller Heiligen Fluch

Titel: Aller Heiligen Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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mir leid», hört sie sich sagen, «aber ich muss heute Abend noch richtig viel arbeiten.»
    «Ach so. Na ja, macht nichts.» Shona klingt enttäuscht, wird aber gleich darauf wieder munterer. «Warst du denn bei dieser Aborigine-Tagung? Phil war auch eingeladen, fand das aber irgendwie zu abgedreht.»
    «Das war es auch. Abgedreht, aber trotzdem interessant.»
    «Bist du sicher, dass du nicht doch ein Stündchen plaudern magst?»
    «Tut mir leid, Shona. Ich würde dich wirklich gern sehen, aber ich habe stapelweise Essays zu korrigieren.»
    «Na gut. Dann bis demnächst.»
    «Mach’s gut. Hoffentlich geht es Phil bald besser.»
    Draußen stürmt es immer noch. Die Haustür klappert, und Ruth hört, wie ihre Mülltonne umkippt. Sie erinnert sich daran, wie sie sich einmal im Salzmoor verirrt und Nelson sie gerettet hat. Er hat sich einen Weg über die verborgenen Pfade, die alten, geheimen Übergänge, gesucht, und ist gekommen, um sie zu retten. Dann denkt sie daran, wie er sich einmal ihretwegen in einen eiskalten Fluss gestürzt hat. Sie hat ihn als selbstverständlich hingenommen, Nelson und seinen tollkühnen Mut. Wie soll es werden, ihn nicht mehr in ihrem Leben zu wissen mit all seiner überbordenden, nervtötenden Präsenz? Obwohl sie Nelson erst seit ein paar Jahren kennt, kann sie sich das überhaupt nicht mehr vorstellen.
    Als es an die Tür klopft, ist sie starr vor Schreck. Sie denkt an andere unerwartete Besucher zurück: Erik, Cathbad, David, einmal sogar Nelson selbst, in jener grauenvollen Nacht, nachdem sie Scarlets Leiche gefunden hatten. Wer wird es diesmal sein? Der Schnitter mit Namen Tod? Das unsagbare Grauen aus der Erzählung von der Affenpfote? Vielleicht ist es ja auch nur Cameron, der sie auf einen Joint einladen und mit ihr über den Sinn des Lebens philosophieren will.
    Sie öffnet.
    Draußen steht Michelle.

[zur Inhaltsübersicht]
    24
    «Kann ich reinkommen?», fragt Michelle.
    Sie sieht furchtbar aus – ungeschminkt, die Haare ungewaschen, die Kleider zerknittert –, doch auf irgendeine rätselhafte Weise wirkt sie schöner denn je. Ruth findet, dass sie aussieht wie nicht von dieser Welt, eine Kreatur der Nacht, die zeitlose Verkörperung der schmerzerfüllten Frau.
    «Aber klar.» Ruth tritt beiseite.
    «Weißt du es schon?», fragt Michelle. «Das mit Harry?»
    «Ja», sagt Ruth.
    Michelle kommt herein und setzt sich auf das Sofa. Wie aus dem Nichts taucht Flint auf und macht Anstalten, ihr auf den Schoß zu springen. Ruth scheucht ihn weg.
    «Möchtest du einen Tee oder einen Kaffee?» Ruth weiß selbst, wie absurd das klingt, doch Michelle scheint direkt aus dem Krankenhaus zu kommen. Womöglich hat sie den ganzen Tag noch nichts gegessen.
    «Nein, danke», antwortet Michelle. Sie schaut auf ihre Hände, lange, elegante Finger, ein großer Brillant am Ringfinger der rechten Hand. Wie hat der junge Polizist Nelson sich bloß so einen Ring leisten können?
    Ruth setzt sich ihr gegenüber hin und wartet. Etwas anderes bleibt ihr ja auch nicht übrig.
    «Harry liegt im Koma», sagt Michelle schließlich. «Weißt du davon?»
    «Ja», sagt Ruth. «Judy hat mich angerufen.»
    «Judy? Ach, diese Polizistin. Was hat sie denn noch gesagt?»
    «Nur, dass Nelson … Harry … sehr krank ist und niemand genau weiß, was er hat.»
    «Ja. Sie glauben, es könnte ein Virus sein, aber sicher sind sie sich nicht. Im Augenblick reagiert er auf gar nichts. Es ist grauenhaft, sie behandeln ihn nur mit Mundschutz, weil sie nicht wissen, ob es vielleicht ansteckend ist.» Sie hält inne, holt tief Luft. «Er erkennt niemanden mehr, weder mich noch die Mädchen. Wir dringen einfach nicht zu ihm durch.»
    «Das tut mir leid», sagt Ruth hilflos.
    Michelle sieht sie an. Und Ruth überlegt, dass sie gerade wohl zum allerersten Mal miteinander allein sind. Wieder registriert sie die klassische Ebenmäßigkeit von Michelles Gesicht und den Ausdruck in ihren Augen. Etwas in ihrem Blick sorgt dafür, dass Ruth es wirklich mit der Angst zu tun bekommt.
    «Weißt du, warum ich hier bin?», fragt Michelle.
    Ruth schüttelt den Kopf.
    «Ich will, dass du zu ihm gehst.»
    «Was?»
    Michelle sieht Ruth direkt an. Ihre Augen sind weit aufgerissen und schwimmen in Tränen.
    «Ich will, dass du Harry besuchst», sagt sie. «Er vermisst dich.»
    Ruth hört ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne. «Bestimmt nicht», sagt sie.
    Wieder richtet Michelle diesen schrecklichen Blick voll strahlender Schlichtheit auf sie.

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