Aller Heiligen Fluch
«Er ist nicht in dich verliebt. Das weiß ich auch. Aber ihm liegt sehr viel an dir. Und er leidet darunter, dass er dich nicht sehen darf. Er … An mich ist er gewöhnt. Aber ich dachte … wenn er dich sieht …»
Ruths Augen füllen sich ebenfalls mit Tränen, doch sie sagt nichts.
«Ich dachte mir, wenn er dich einfach sieht, deine Stimme hört …»
Ruth sieht Michelle an, die sie immer noch aus diesen großen, seltsam unschuldigen Augen mustert. In diesem Moment ist sie überzeugt, Michelle zu lieben, mehr noch, als sie Nelson jemals geliebt hat. Doch das ändert nichts an ihrer Antwort.
«Ich kann nicht. Es tut mir leid.»
«Warum denn nicht?»
«Ich habe Angst. Nelson ist krank, und keiner weiß, was es ist. Ich habe Angst, dass ich Kate irgendwie damit anstecke.»
Michelle steht auf. Sie ist größer als Ruth, doch jetzt scheint sie fast drei Meter groß zu sein, eine unversöhnliche Verfechterin des Rechts.
«Ich habe mich in dir getäuscht, Ruth. Ich dachte, du liebst ihn.»
Ruth schweigt.
«Bei allem, was ich von dir gedacht habe, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass du ihn nicht lieben könntest. Und das Seltsame ist, ich habe dich nicht dafür gehasst. Ich dachte vielmehr, damit hätten wir etwas gemeinsam. Ich liebe ihn nämlich. Ich liebe ihn mehr als alles andere.»
Der vergangene Sommer, dieser lange, kalte Sommer, in dem Nelson sich schließlich für Michelle und gegen Ruth entschieden hat, war für Ruth eine der schrecklichsten Zeiten ihres Lebens. Sie war allein, und alle Welt war im Urlaub: Shona und Phil in der Toskana, die Nelsons (wie sie gehört hat) in Florida, Cathbad in einem Kloster auf Iona. Ruth hatte die Einladung ihrer Eltern ausgeschlagen, mit ihnen in ein christliches Ferienlager auf der Isle of Wight zu fahren. Stattdessen verbrachte sie die Zeit damit, lange Spaziergänge mit Kate im Sportwagen zu machen, auf den Kieswegen des Salzmoors, an der Küste von Cromer, durch die Straßen von King’s Lynn. Hätte sie nicht allabendlich Schokoladenkekse in sich hineingestopft, sie hätte sogar abgenommen.
Doch vor allem wurde Ruth an diesen grauen, einsamen Tagen und endlosen Nächten von Angst verfolgt. Sie ließ sich von dieser Angst verzehren, gab sich ihr hin, schwelgte förmlich darin. Ganze Stunden verbrachte sie im Internet und suchte nach Informationen, die der Angst Nahrung gaben. Es war eine Angst vor Krankheiten, vor allem davor, dass Kate krank werden könnte. Anfang des Sommers waren die Nachrichten voll von der Panik um die Schweinegrippe. Bei ihren fieberhaften nächtlichen Internet-Recherchen stieß Ruth immer wieder auf Geschichten von kerngesunden Babys, die gerade noch fröhlich spielten und kurz darauf im Krankenhaus um ihr Leben rangen. Manche dieser Babys starben sogar. Und Ruth, in ihrer Einsamkeit nicht mehr ganz zurechnungsfähig, überlas den Umstand, dass die Kinder, die starben, meist schon vorher unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen gelitten hatten. Sie wusste nur, dass Kate ihr womöglich genommen werden könnte. Ständig fühlte sie ihr die Stirn, leistete sich ein Thermometer, mit dem sich die Temperatur über das Ohr messen ließ, und benutzte es so oft, dass Kate eine Entzündung im Ohr bekam und die ganze Nacht brüllte. Und Ruth fühlte sich ernstlich am Rande des Wahnsinns, während sie mit ihrem kranken Kind auf und ab ging. Sie wusste nicht mehr, ob sie das alles weiterhin schaffen würde. Sie dachte darüber nach, mit Kate auf dem Arm ins Meer zu gehen und sich Eriks unerbittlichen Gezeiten auszuliefern. Hätte sie gewusst wie, sie hätte gebetet.
Doch es wurde wieder besser. Die Freunde kehrten aus dem Urlaub zurück, die Schweinegrippe verschwand aus den Nachrichten. Ruth ließ ganze Tage verstreichen, ohne bei Kate Temperatur zu messen. Die Uni fing wieder an, und sie vergrub sich in Arbeit. Auf den trüben Sommer folgte ein wunderschöner Herbst. Und doch, als sie Judy vorhin sagen hörte: «Sie glauben, es ist ein Virus, eines von denen, auf die kein Medikament anspricht», da stürzte alles wieder auf sie ein. Nelson stirbt an einem unbekannten Virus, und jetzt verlangt Michelle von ihr, dass sie auch Kate dieser Gefahr aussetzt. Wenn es nur um ihre eigene Sicherheit ginge, würde Ruth diese bereitwillig für Nelson opfern, davon ist sie überzeugt. Schließlich hat auch er schon sein Leben für sie riskiert. Aber sie muss an Kate denken, und Kate hat niemanden außer ihr.
«Es tut mir leid», sagt sie
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