Aller Heiligen Fluch
gelassen. Ihm war das vermutlich sogar ganz recht.
Leise summt Michelle die Titelmelodie von
Match of the Day
vor sich hin. Was ist wohl nötig, damit er die Augen öffnet? Ein Gastauftritt der Elite-Mannschaft von Blackpool vielleicht? Michelle nimmt sich vor, den Manager gleich morgen anzurufen. Nelsons Mutter ist auf dem Weg von Blackpool hierher. Ein Besuch von Maureen müsste eigentlich selbst Tote aufwecken. Michelle hat ihre Schwiegermutter sehr gern, trotzdem ist ihr unwohl bei der Vorstellung, so viel Zeit mit ihr verbringen zu müssen, während sie sich beide vor Angst um ihren geliebten Harry verzehren. Maureen hält mit ihren Ansichten grundsätzlich nicht hinterm Berg, sie sagt Laura, dass sie viel zu dünn sei, und Michelle, dass sie zu viel Geld für Kleidung ausgebe. Der ersten Begegnung zwischen Maureen und dem mundschutzbewehrten Pflegepersonal sieht Michelle also nicht gerade optimistisch entgegen.
«Wach auf, Harry», flüstert sie. «Deine Mutter ist unterwegs hierher.» Haben seine Lider nicht ganz leicht geflattert? Er liebt seine Mutter, doch nach ein paar Tagen mit ihr ist sein Bedarf meistens völlig gedeckt. Über die Jahre hinweg hatten sie etliche gewaltige Auseinandersetzungen. Michelle hat jedes Mal versucht, zu vermitteln, doch irgendwann hat Nelsons Schwester Grainne sie darauf hingewiesen, dass sowohl Harry als auch seine Mutter die Streitereien offensichtlich genießen. Warum ihnen also den Spaß verderben? Seither versucht Michelle, das Gebrüll und die Vorwürfe der Undankbarkeit ihrer- und des ständigen Einmischens seinerseits geflissentlich zu überhören. Sie selbst steht – abgesehen von ihrer Verschwendungssucht – bei ihrer Schwiegermutter meistens hoch im Kurs, und nicht selten ruft Maureen Gott zum Zeugen an, dass Harry eine solche Frau gar nicht verdient. Maureen und Gott verstehen sich bestens, und der Allmächtige lässt sich bei jeder Streitigkeit bereitwillig heranziehen, um Maureens Sicht der Dinge zu bekräftigen.
Ob sie einen Priester zu Harry holen soll? Er ist katholisch aufgewachsen, hat aber seit Jahren kaum eine Kirche von innen gesehen. Da wäre Pater Hennessey, mit dem Nelson sich bei einem früheren Fall angefreundet hat, aber Michelle hat keine Ahnung, wie sie ihn erreichen kann. Aber wenn es etwas nützt, würde sie selbst beim Papst vorstellig werden. Sie fragt sich, ob Maureen womöglich einen Priester anschleppen wird; irgendeinen handzahmen hat sie doch immer in petto. Michelle ist sich bewusst, dass nur die Angst sie davon abhält, bei der nächstgelegenen katholischen Gemeinde anzurufen. Ein Priester, das würde bedeuten, dass Nelson ernstlich krank ist, vielleicht sterben wird. «Es kann so oder so ausgehen», hat der Arzt am Abend zu ihr gesagt. Doch für Michelle ist nur eine Möglichkeit vorstellbar. An die andere will sie nicht einmal denken.
Das Feuer ist erloschen. Cathbad kommt langsam zum Haus zurück. Er trägt seinen Umhang, der leise über das trockene Herbstlaub raschelt. Seine Miene ist konzentriert, die Augen halb geschlossen. Ruth, die ihn von oben beobachtet, weil sie sich nicht näher herantraut, fragt sich, ob er die Drogen wohl schon genommen hat. Sie hört ihn heraufkommen, schwere Schritte auf den unebenen Bodendielen. Aus dem Bad, von wo aus sie ihm zugeschaut hat, tritt sie auf den Gang hinaus. Cathbad geht einfach an ihr vorbei ins Gästezimmer. Sie hört, wie die Tür ins Schloss fällt. Die Stille lastet schwer auf dem Haus. In der Ferne hört Ruth einen Fuchs bellen, und in noch weiterer Ferne hört sie das Meer. War das alles? Wird sie jetzt bis zum Morgen warten müssen, bevor sie weiß, ob er noch lebt? Und was ist mit Nelson? Sie lauscht dem Rauschen des Meeres in der Dunkelheit und denkt an eine andere Nacht zurück, jene schreckliche und wundersame Nacht, in der Kate gezeugt wurde. Was hat Nelson damals noch zu ihr gesagt?
Danke, dass du da warst.
Nun, heute Nacht wird sie nicht für ihn da sein. Langsam geht sie in ihr Zimmer zurück.
Romilly Smith überprüft den Inhalt ihrer Tasche: Handy, Bürste, Parfum (
Après L’Ondée
), Smythson-Notizbuch, Zweitschlüssel, Schutzhandschuhe. Ein plötzliches Geräusch lässt sie ans Fenster treten und hinausschauen, doch draußen bei den Ställen ist alles ruhig. Caroline ist im Pub und verbrüdert sich mit den Angestellten. Randolph ist wahrscheinlich wieder heimlich in einer Schwulen-Bar unterwegs, obwohl er jetzt, nachdem sein Vater tot ist, eigentlich
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