Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
schließlich eine davon und legt sie auf die andere Seite, nach links, während er die Akte der H. nach rechts legt.
Und leitet wenig später nur die Akten, die links liegen, weiter an den sowjetischen Genossen Shu.
Und wenn doch nicht? Wenn er die H. doch nicht gegen einen seiner fünf Freunde eintauscht, sondern weiterreicht an den Genossen Shu.?
Dann hätte noch immer der Genosse Shu. bei genauerem Studium der Akte der H. sehen können, ja müssen, dass Lisa Fahrenwald, abgekürzt F., in Wahrheit die Genossin H. war, damit wäre sie an diesem Tag nicht in das Kontingent der deutschen Genossen eingeteilt worden, weder in Kategorie 1, noch in Kategorie 2.
Eine Woche später, als die Buchstaben H bis M zur Verhaftung fällig gewesen wären, hätte H. ausnahmsweise einmal bei ihrer alten Freundin O. übernachtet, nachdem sie diese am Tag zuvor im Café Krasni Mak zufällig getroffen und ihr von ihrer Einsamkeit erzählt hatte, die sie nur einer solchen langjährigen Freundin gegenüber beim Namen nannte.
Ich bin seit der Verhaftung von H. so einsam wie noch nie in meinem ganzen Leben, hätte sie zu ihrer Freundin gesagt. O. hätte sie daraufhin beim Arm genommen und aus dem Café geführt, wäre mit ihr den Arbat hinunter spaziert bis zu dem Haus, in dem sie ihr Zimmer hatte. Spät in der Nacht noch hätte H. der Freundin vom neunjährigen Sascha und den Papierflugzeugen erzählt und zu weinen begonnen. Daraufhin hätte O. ihr im Erker des kleinen Zimmers eine Matratze auf den Boden gelegt und ihre Freundin H. über Nacht bei sich behalten.
Die Beamten des NKWD hätten sie deshalb in eben dieser Nacht, in der nämlich der Buchstabe H fällig gewesen wäre, nicht zu Hause angetroffen, und damit wäre die Sache erledigt gewesen, denn in der drauffolgenden Woche wäre schon der Buchstabe N, wie zum Beispiel Neuwiedner, dran gewesen, und es wäre inzwischen dem Antrag der Genossin H. auf Einbürgerung in die Sowjetunion stattgegeben worden und sie damit der Zuständigkeit des Genossen Shu. auf immer entzogen.
Ende 1938 wäre mit der Verhaftung des Geheimdienstchefs Jeschow die Zeit der kontingentweisen Verhaftungen vorüber gewesen, allerdings wären viele der unter Jeschow Verhafteten dennoch nie wieder aufgetaucht. Die Genossin H. hätte noch viele Briefe geschrieben, um in Erfahrung zu bringen, wie es ihrem Mann gehe, und wo er sei, hätte aber auf keinen der Briefe jemals eine Antwort erhalten. Hätte noch viele Male nach ihm gefragt und noch viele Male gesehen und auch gehört, wie der oder jener Beamte mit Unwillen das Schalterfenster vor ihr herunterschob. Andere Fragende hatten mehr Glück und erfuhren an einem solchen Schalterfenster, dass ihre Männer oder Söhne in einem anderen Gefängnis seien, oder schon in der Verbannung, wo sie allerdings vielleicht verhungern würden, vielleicht auch erfrieren. Dann schrien sie oder begannen zu bitten, manche weinten auch einfach still in sich hinein oder verstummten.
Was ihren Lebensunterhalt anging, hätte sie nicht, wie damals die Frau des verhafteten V. als Schneiderin arbeiten können, ein für alle Mal war sie ja ungeschickt in solchen Sachen, schlunzig und schleißig . Auch als Lehrerin an der deutschen Liebknecht-Schule in Moskau konnte sie sich nicht mehr bewerben, denn die Schule war wegen Verhaftung beinahe sämtlicher Lehrer und Lehrerinnen vor einem halben Jahr geschlossen worden. Am Marx-Engels-Institut, bei Radio Moskau, in dem Verlag, der deutsche Bücher in der Sowjetunion verlegte, und bei der Deutschen Zentralzeitung – überall wusste man, dass sie die Frau des verhafteten H. war.
Eine Hure aber war sie wahrhaftig nicht.
Oder?
Für 2 Paar Schuhe? 1 Liter Sahne? Für 15 Erdäpfel oder 1 halbes Pfund Fett?
Verehrter Genosse Dimitroff, bitte helfen Sie mir. Geben Sie mir Arbeit. Lassen Sie mich nicht untergehen.
Würde es denn wirklich so schlimm sein, ihren Körper und die Öffnungen ihres Körpers stunden- oder halbstundenweise zu verkaufen, um ebendiesen Körper am Leben zu erhalten?
Wem sie es schließlich verdankte, dass sie im letzten Moment doch bei der Zeitschrift Internationale Literatur als Übersetzerin für sowjetische Lyrik eingestellt wurde, hätte sie niemals erfahren.
Wo war eigentlich ein Gedicht, während es aus der einen Sprache in die andere übersetzt wurde? Nur in den wenigen Stunden, die sie in diesem Niemandsland der Worte verbrachte, hätte sie manchmal an etwas anderes zu denken vermocht, als an den Mann, den sie
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