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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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angenehm das ist, in dieser Kälte ohne Körper zu sein. Nachts werden hier, wo sie über das Ende der Welt weit hinaus sind, die Erze von der Schlacke getrennt, was schlecht ist, wird verbrannt, in Flammen lodert es auf, die höher sind als der Stephansdom, farbenprächtige Gebilde sind das, bunt wie der Horizont, Lichtfontänen, schöner ist das als alles, was sie jemals gesehen hat, herrlich ist das, dieses Verbrennen von Schlacke in der Mitte von Nirgendwo, das Allerschönste.
    Die Lebenden hacken tagsüber den erzhaltigen Ton, transportieren ihn mit Loren fort und entzünden nachts diese Feuer. Und die Toten verbrennen in diesem Feuer all die Sätze, die sie, als sie selbst noch Lebende waren, einmal gesagt haben – aus Angst, aus Überzeugung, aus Zorn, aus Gleichgültigkeit oder aus Liebe gesagt haben. Warum bist du hier, fragt sie denjenigen, von dem sie weiß, dass er einmal gesagt hat: Wir sehen uns hier im Flug der Gespräche ziemlich genau. Ich war durstig, sagt er, und habe deshalb von dem Wasser getrunken, das nicht abgekocht war, und bin an Typhus gestorben. Und du, fragt sie denjenigen, von dem sie weiß, dass er jemand anderen einmal einen Schundliteraten genannt hat. Ich bin erfroren. Und du? Wenn das jemand sieht. Ich bin verhungert. Irgendein Satz fliegt in den Himmel hinauf und hat nicht mehr und nicht weniger Gewicht, als der, der ihn einmal gesagt hat. Und du? Ich bin wahnsinnig geworden, erst der Tod hat mich wieder zur Vernunft gebracht, sagt er und lacht, und sein Lachen hat hier, etwa 250 Meter über dem Steppenboden, eine pelzige Konsistenz. Ich, sagt ein anderes Stück Luft, erinnere mich nur noch daran, wie ich mich irgendwo angelehnt habe, weil ich zu schwach war, um weiterzugehen, und jemand hat mir im Vorübergehen in die Augen geschaut, die ich damals noch hatte. Ich bin froh, hört sie eine weibliche Stimme, hört ohne Ohren, so, wie sie ohne Augen sieht, ich bin froh, hört sie die Stimme sagen, dass mit den Augen auch mein Weinen endlich aufgehört hat, denn mein eigenes Kind hat sich von mir, als ich verhaftet wurde, losgesagt, hat mich eine Volksfeindin genannt, da habe ich mein Hemd zerrissen, daraus einen Strick gedreht und mich am Türriegel erhängt.
    Wir sehen uns hier im Flug der Gespräche ziemlich genau.
    Vielleicht müsste man einmal die Stärke des Luftzugs untersuchen, den so eine Seele beim Umherirren macht. Vielleicht werden auch hier, mitten in dieser Wüste, einmal Blumen wachsen, Tulpen vielleicht sogar, vielleicht wird die Anwesenheit unzähliger Schmetterlinge eines Tages einmal ebenso wirklich sein, wie es jetzt die Abwesenheit jeglicher Schmetterlinge ist, bei minus 63 Grad Celsius. Sie hat nun, wie die anderen Toten, alle Zeit der Welt, um auf andere Zeiten zu warten. Für die Lebenden allerdings, denen keine andere Zeit zur Verfügung steht, als die, in der sie zufällig einen Körper besitzen, ist das einzige Bunte, das sie, gemeinsam mit den Toten, des Nachts hier sehen können, die Lohe.
    7
    A ls sie noch lebendig war, musste sie im vergangenen Sommer zusammen mit den anderen Frauen draußen vor dem Lager mehrere große Gruben ausheben, damit sie später im Winter, wenn der Boden gefroren wäre, einen Platz hätten, wo sie sich begraben könnten. Gemeinsam haben sie sich selbst und ihren Freundinnen, auch ihren Feindinnen, und auch denen, die ihnen gleichgültig waren, Gräber gegraben auf Vorrat.
    An irgendeinem Tag des einundvierziger Sommers hat sie ihre Spitzhacke an einem bestimmten Punkt der Erde in die Erde geschlagen, und begonnen, sich ihre eigene Grube zu graben, natürlich ohne zu wissen, dass es genau dieser Ort auf der unendlichen Erdoberfläche sein würde, der ihr zur Wohnung für den ewigen Winter bestimmt war. 45.61404 Grad nördlicher Breite und 70.75195 Grad östlicher Länge würden Menschen diesen ansonsten namenlosen Ort nennen, an dem sie an einem Sommertag bei vierzig Grad Hitze ihre Spitzhacke in den trockenen Sand schlägt, Gras, kleine Insekten und Staub fliegen umher, bis in die Tiefe hinein ist die Erde hier vollkommen trocken.
    Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth.
    Im einundvierziger Winter zieht nachts, als alle schlafen, die Diensttuende das kaltgewordene rechte Bein der Toten unter dem warmen Bein einer Schlafenden hervor, schleift den leblosen Körper aus der Baracke und bringt ihn in die Totenbaracke hinüber. Bei der Kälte, die hier herrscht, dauert es nicht einmal zwei Tage, bis so ein Körper mitsamt

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