Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
am Ende der Liste steht, und nicht, wie die ersten 10 Personen eines jeden Kontingents, unter die Kategorie 1 fällt. Für die Kategorie 1 lautet nämlich das Urteil: Tod durch Erschießen .
Für die Kategorie 2 aber, also für die restlichen 40 Personen auf jeder Liste, darunter auch H., die hier versehentlich unter dem Namen Lisa Fahrenwald firmiert, lautet das Urteil nur: acht bis zehn Jahre Lagerhaft .
Alles hätte aber auch anders kommen können.
Zwar hätte der Genosse Ö., der die Genossin H. privat, das heißt seiner Frau gegenüber, immer als schmallippige Hysterikerin bezeichnet hat, in jedem Fall deren Lebenslauf auf den linken Stapel gelegt, nicht auf den rechten. Und hätte den linken Stapel weitergeleitet an den Genossen B.
Aber wäre dem Genossen B. zum Beispiel nicht nur der ausgezeichnete Apfelstrudel der Genossin H. eingefallen, sondern wäre ihm auch der Gedanke gekommen, dass die Genossin H. bei einer eventuellen Vernehmung ihn, also den Genossen B., aufgrund des Datschenbesuchs ganz sicher als Bekannten, vielleicht sogar als Freund, aufführen würde, hätte er ihre Akte wahrscheinlich doch lieber auf den rechten Stapel gelegt.
Wäre ihm aber dieser Gedanke nicht gekommen, wäre es also beim linken Stapel für die Akte der H. geblieben, dann hätte nach Weiterleitung der Akte immerhin der Genosse S. sich vielleicht daran erinnert, dass er im vergangenen März unmittelbar nach der Versammlung, in der die Parteigruppe zur Verurteilung Bucharins Stellung genommen hatte, noch mit dem Genossen H. und seiner Frau zusammengestanden und in einem Anfall von Übermut einen politischen Witz erzählt hatte.
Drei Gefangene sitzen in einer Zelle und unterhalten sich.
Warum sitzt du?
Ich war für Bucharin.
Und du, warum?
Ich war gegen Bucharin.
Und du?
Ich bin Bucharin.
Alle drei hatten gemeinsam gelacht. Wenn aber der Genossin H., war sie überhaupt noch Genossin?, bei einem Verhör einfiel, dass er diesen Witz erzählt hatte, würde ihm das ganz sicher zum Verhängnis. Genosse S. hätte sich also für den rechten Stapel entschieden, nicht für den linken.
Nur wenn seine eigene Erinnerung ihn im Stich gelassen hätte, wäre die Akte der H. doch auf dem linken Stapel gelandet und an den Genossen L. weitergeleitet worden.
Der Genosse L. hätte sich nun vielleicht, wer weiß, plötzlich beim Durchsehen der Akte gefragt, ob es sich bei der H. wohl um die Frau handelte, deren prachtvolles rotes Haar er auf Versammlungen oft aus der Ferne bewundert hatte, die ihm aber nie vorgestellt worden war. Er hätte seine Sekretärin, die gerade mit neuen Akten hereinkam, beiläufig gefragt, ob sie wisse, was denn die H. für eine sei, und die Sekretärin hätte gesagt: So ein jüdischer Rotschopf. Daraufhin hätte er, die Sekretärin wäre wieder fort gewesen, den Lebenslauf der H. auf den rechten Stapel gelegt.
Obgleich es sich bei ihr offensichtlich um die Frau des Genossen H. handelte, der ihm einmal öffentlich vorgeworfen hatte, er habe keinen Arsch in der Hose .
Aber so weit er wusste, war H. ja verhaftet.
Danach hätte er, bevor er die Akten weitersortierte, einen Augenblick lang versucht, sich vorzustellen, wie die H., der jüdische Rotschopf mit der milchigen Haut, wohl zwischen den Beinen aussehen mochte, und sich gefragt, ob die Haare, die sie dort unten hatte, wohl auch rot waren oder doch blond.
Wäre die Sekretärin aber zum Beispiel in diesem Augenblick n i c h t ins Zimmer gekommen, als der Genosse L. die Kaderakte der H. in den Händen hielt, wäre die Akte mit großer Wahrscheinlichkeit doch auf dem linken Stapel des Genossen L. gelandet und an den Genossen F. weitergeleitet worden.
Der Genosse F. nun kennt die Genossin H. sehr gut und auch ihren Mann, der schon verhaftet ist. Er hält es für vollkommen unwahrscheinlich, dass die beiden, wie behauptet wird, trotzkistische Spione sein sollen. Auf dem rechten Stapel auf seinem Schreibtisch liegen schon fünf Kaderakten von guten Freunden, für die er direkt bei Stalin intervenieren will. Mehr als fünf hat gar keinen Sinn, das weiß er.
Vielleicht steht er auf, nimmt aus dem Regal eine Flasche Wodka. Und denkt, während er sich ein Gläschen randvoll einschenkt, es dann ansetzt und mit einem Schluck leert, daran, wie er in einer der letzten Aussprachen im Schriftstellerverband als hoffnungsloser Alkoholiker bezeichnet wurde.
Vielleicht geht er zum Schreibtisch zurück, schaut die Akten seiner Freunde jetzt doch noch einmal durch, nimmt
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