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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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noch der letzten Andenken an ihren Mann entledigen, die Mutter wisse nicht, was es heißt, wirklich zu lieben. Durch den Beginn des Krieges und ihre Übersiedlung nach Ufa war der Kontakt nach Wien schließlich völlig abgerissen. Erst gegen Ende des Krieges, als sie durch ihre Arbeit beim Rundfunk erfuhr, was in den von Deutschland besiegten Ländern mit den Juden geschah, hatte sie sich gefragt, wann das Päckchen der Mutter gekommen war, 1939 vielleicht, oder 1940? Liebe Mutter, mir geht es sehr gut. Ich habe inzwischen einen Sohn bekommen, er ist jetzt drei Jahre alt und heißt Sascha. Der Brief war mit dem Vermerk: Evakuiert nach dem Osten zurückgekommen. So geschlossen und mehrfach abgestempelt, wie er zurückgekommen war, lag er noch immer ganz unten unter den Laken im Wäschefach. Jetzt wird der Sohn diesen Brief irgendwann finden. Jetzt hat sie keine Geheimnisse mehr. Jetzt kann sie den Sohn nicht mehr schützen. Und auch sich nicht.
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    A m Fuß der Treppe hat die Haushälterin sie gefunden, als sie am Vormittag kam. Gegen halb elf, aber vielleicht ist es auch früher passiert, war der Sohn in der Schule gerade fertig mit seinem Aufsatz über das Gedicht »Willkommen und Abschied« von Goethe. Der Moment, in dem sich sein ganzes Leben verändert hat, sah nicht anders aus als alle anderen Momente davor oder danach. Wahrscheinlich, sagt die Haushälterin, hatte die Mutter sich oben gerade umgezogen und wollte ins Arbeitszimmer hinuntergehen. Die Treppe ist eben teuflisch, sagt die Haushälterin. Als kleines Kind ist er das Treppengeländer nur hinuntergerutscht, wenn seine Mutter nicht hinsah. Stürzen könne er, sich ein Bein brechen oder den Hals. Sei so gut, und fall mir die Treppe nicht hinunter , hatte die Mutter immer gesagt. Sicher ist sie niemals das Treppengeländer hinuntergerutscht, sondern immer nur Schritt für Schritt, Stufe um Stufe hinauf- oder hinabgegangen, aber die Treppe ist eben teuflisch, wie die Haushälterin sagt.
    6
    W as ist eigentlich aus deiner Verwandtschaft geworden, hatte der Sohn sie, als er schon älter war, gefragt. Sie hatte gesagt: Es gab Bombenangriffe auf Wien. Nach so vielen Dingen, die leichter zu beantworten gewesen wären, hatte er sie noch nicht gefragt. Gern hätte sie ihm gesagt, welche Apfelsorte sie für den Strudel nahm. Jetzt stürzte sie. Jetzt fiel sie eine Treppe hinunter, und die Treppe führte nicht mehr ins Erdgeschoss ihres Hauses, nicht mehr zum Arbeitszimmer, nicht mehr zur Eingangstür, nicht mehr zur Küche, die Treppe führte für eine wie sie, die an nichts Überirdisches glaubte, vom Oberstock ihres Hauses nur noch ins Nichts. Niemals hätte sie gedacht, dass es so plötzlich geschieht, dass die Grenze zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, sich auftut.
    Wirklich nicht?, fragt ihre kleine Schwester.
    Und dass es mitten im Leben passieren muss, auf so einer dummen Treppe.
    Du wolltest eben vorwärts, wie immer.
    Ach was, ich bin einfach zu schwer.
    Man sieht, dass es dir gut geht.
    Mich vom Hunger nie wieder erpressen lassen.
    Das hast du geschafft.
    Und jetzt sterb ich daran, dass ich so ein Koloss bin.
    Blödsinn.
    Einmal im Jahr fahre ich deswegen zur Kur.
    Um dich vom Essen nicht erpressen zu lassen.
    Einmal hab ich 12 Kilo verloren.
    Das ist allerhand.
    Aber jetzt?
    7
    D ie Haushälterin sagt, sie habe dafür gesorgt, dass die Männer, die die Mutter abholten, vorsichtig mit ihr umgegangen seien. Ein Bein habe sich im Geländer verklemmt gehabt, und sie habe kopfüber gelegen, aber genauer wolle sie das gar nicht beschreiben. Als er zur Schule ging, hatte er noch eine Mutter. Als er zur Schule ging, war die Mutter ihm noch im Bademantel bis zur Gartentür nachgelaufen. Wie immer, wenn es noch nicht über zehn Grad hatte, oder schon unter zehn. Er ist inzwischen beinahe doppelt so groß, wie er bei seiner Einschulung war, aber dennoch läuft sie ihm auch jetzt noch mit der Mütze bis zur Gartentür nach: Junge, setz die Mütze auf . Lief ihm bis heute. Dort, wo die Straße eine Kurve machte, konnte die Mutter ihn nicht mehr sehen, da nahm er die Mütze wieder ab. Er fror nie, aber die Mutter glaubte das nicht. Die Haushälterin sagt, sie würde jetzt gerne heimgehen, ganz durcheinander sei sie von alldem, was passiert sei, aber wenn er Hilfe brauche, morgen oder wann immer, er wisse ja, wo sie wohne. Heimgehen. Er nickt und macht die Tür hinter ihr zu.
    Wie soll er jetzt jemals wieder diese Treppe hinaufgehen? Der Teppichbelag, mit

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