Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
dem Fleisch, das die Knochen bekleidet hat, zum Skelett gefroren ist.
Vor vielen Jahren hat der eine das eine Wort gesagt, und der andere das andere Wort, Worte haben Luft bewegt, Worte wurden mit Tinte auf Papier geschrieben, wurden abgeheftet, Luft ist aufgerechnet worden mit Luft, und Tinte mit Tinte. Es ist schade, dass man die Grenze nicht sehen kann, an der Worte aus Luft und Worte aus Tinte sich in etwas Wirkliches verwandeln, ebenso wirklich werden wie eine Tüte Mehl, eine Volksmenge, die in Aufruhr gerät, ebenso wirklich wie das Geräusch, mit dem die gefrorenen Knochen der Genossin H. im Winter einundvierzig in eine Grube hinunterrutschen, dieses Geräusch hört sich so an, wie wenn jemand hölzerne Dominosteine in ein Kästchen zurückwirft. Denn wenn es kalt genug ist, klingt etwas, das einmal aus Fleisch und Blut war, genauso wie Holz.
INTERMEZZO
D er Genosse Ö., der die Genossin H. privat, das heißt seiner Frau gegenüber, immer als schmallippige Hysterikerin bezeichnet hat, legt deren Kaderakte auf den linken Stapel auf seinem Schreibtisch, nicht auf den rechten.
Den linken Stapel leitet er an den Genossen B. weiter.
Der Genosse B. erinnert sich, als er die Akte aufschlägt, daran, auf der Datsche von H. und und dessen Frau vor Jahren einmal zu Besuch gewesen zu sein, Letztere hatte einen ausgezeichneten Apfelstrudel gebacken. Ein Apfelstrudel kann jedoch kein Grund sein, ein konterrevolutionäres Element zu verschonen. Deshalb legt er die Kaderakte auf den linken Stapel, nicht auf den rechten.
Den linken Stapel leitet er weiter an den Genossen S.
Der Genosse S. fragt sich, ob die Genossin H., war sie überhaupt noch Genossin?, wenn sie denn verhaftet wäre, etwas Nachteiliges über ihn sagen könnte, um sich selber zu retten? Hatte er irgendwann einmal ihr gegenüber etwas gesagt, das ihn belasten würde? Da ihm nichts Derartiges einfällt, legt er ihre Akte auf den linken Stapel auf seinem Schreibtisch, nicht auf den rechten.
Den linken Stapel leitet er weiter an den Genossen L.
Der Genosse L. liest den Lebenslauf der Genossin H., welcher der Kaderakte beigegeben ist, bis zu dem Punkt, an dem klar wird, dass es sich bei dem verhafteten H. um ihren Mann handelt. Dieser H. hat ihm in einer Diskussion einmal wörtlich vorgeworfen, er habe keinen Arsch in der Hose . Er legt den Lebenslauf der Genossin H., die er persönlich nie kennengelernt hat, deshalb ohne Zögern in die Kaderakte zurück, klappt diese zu und legt sie auf den linken Stapel auf seinem Schreibtisch, nicht auf den rechten.
Den linken Stapel leitet er weiter an den Genossen F.
Der Genosse F. kennt die Genossin H. sehr gut und auch ihren Mann, der schon verhaftet ist. Er hält es für vollkommen unwahrscheinlich, dass die beiden, wie behauptet wird, trotzkistische Spione sein sollen. Auf dem rechten Stapel auf seinem Schreibtisch liegen schon fünf Kaderakten von guten Freunden, für die er direkt bei Stalin intervenieren will. Mehr als fünf hat gar keinen Sinn, das weiß er.
Er steht auf und nimmt aus dem Regal eine Flasche Wodka. Während er sich ein Gläschen randvoll einschenkt, es ansetzt und mit einem Schluck leert, denkt er daran, wie er während einer der letzten Aussprachen im Schriftstellerverband als hoffnungsloser Alkoholiker bezeichnet worden ist.
Er geht zu seinem Schreibtisch zurück und legt die Kaderakte der Genossin H. nach links. Später leitet er alle Akten, die links liegen, weiter an den sowjetischen Genossen Shu.
Der sowjetische Genosse Shu. ist infolge des NKWD -Befehls Nr. 00439, des Befehls Nr. 00485 und anderer, die nationalen Verhaftungskontingente betreffenden Befehle verpflichtet, innerhalb dieses Monats, Oktober 1938, je 50 Deutsche, Polen, Koreaner, Griechen und Iraner zu verhaften. Um die Listen zu erstellen, geht er alphabetisch vor, das heißt, er beginnt für jede Nationalität mit dem Buchstaben A.
Beim iranischen Kontingent kommt er so bis zum Buchstaben N.
Beim griechischen bis zum Buchstaben S.
Beim koreanischen bis zum Buchstaben L.
Beim polnischen bis zum Buchstaben D.
Und beim deutschen bis zum Buchstaben F.
Beim Schreiben der Listen unterläuft ihm ein kleiner Fehler, er verwechselt nämlich den Namen, unter dem die Genossin H. in die Sowjetunion eingereist ist, mit deren wirklichem Namen. Ihr Name im falschen deutschen Pass, mit dem sie vor vier Jahren in die Sowjetunion eingereist ist, lautete Lisa Fahrenwald, abgekürzt also F.
Und dabei hat sie noch Glück, dass sie
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