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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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sonst kein Wort.

BUCH IV

1
    K urz vor Vollendung ihres sechsten Lebensjahrzehnts müssen wir von der Genossin H. auf immer Abschied nehmen.
    Er zeigt auf einen der Kränze.
    Zeit ihres Lebens hat sie all ihre Fähigkeiten in den Dienst der Arbeiterklasse und ihrer Partei gestellt. Mit ihr verlieren wir eine beispielhafte Vorkämpferin für die proletarisch-revolutionäre Kunst.
    Er schreibt den Text, der auf die Schleife gedruckt werden soll: Für meine Mutter .
    Mit schwarzer oder mit goldener Schrift?
    Mit schwarzer.
    Als Tochter eines österreichischen Beamten in Brody geboren, in Wien aufgewachsen, war sie seit 1920 Mitglied der Kommunistischen Partei. 1933 emigrierte sie über Prag nach Moskau. Dort trug sie zunächst als Übersetzerin für sowjetische Lyrik bei der Zeitschrift Internationale Literatur zur Völkerverständigung bei und begann sofort nach dem heimtückischen Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion ihre aktive antifaschistische Arbeit beim illegalen Sender von Radio Moskau.
    Er sagt, ja, Rosenblätter sollen, von ihm aus, ins Grab geworfen werden.
    Nach ihrer Rückkehr aus der Emigration übersiedelte sie nach Berlin und begann hier, in nimmermüdem Einsatz für Frieden und Sozialismus ihre ersten eigenständigen literarischen Werke zu veröffentlichen.
    Wieviele?
    Wieviele sind denn so üblich?
    1 Körbchen, 2 Körbchen, 5 Körbchen – je nachdem, wie groß die Trauergemeinde ist.
    Dann lieber 5, sagt er.
    Seither trug sie mit bedeutenden Romanen, Theaterstücken, Erzählungen, Reportagen und Hörspielen Entscheidendes zur Entwicklung der Kunst und Kultur der DDR bei. Wie wenige vermochte es diese große Künstlerin, unserem Volk die gerechteste Sache der Welt bewusst werden zu lassen.
    2
    S ie weiß im Fallen, dass sie fällt, und sie weiß, dass das Geländer schon zu weit weg ist, um es mit der linken Hand zu erreichen, und mit der rechten schon gar nicht, und plötzlich fällt ihr das Treppengeländer in Wien ein, und wie groß der Adler am Ende des Handlaufs ihr als Mädchen erschienen war, und wie es im Treppenhaus immer nach Kalk und nach Staub roch, das alles fällt ihr ein, während sie fällt, als wäre die Erinnerung auch ein Sturz. Jetzt ist sie zum ersten Mal tatsächlich ein gefallenes Mädchen, und wenn es nicht zum Sterben wäre, müsste sie lachen. Ob ihre Mutter auch an sie gedacht hat in ihrem letzten Moment? Ist das überhaupt der letzte Moment? Damals, als sie im Westberliner Radiosender die Geheimrede Chrustschows hörte, hat sie einen Herzinfarkt gehabt und überlebt, soll sie jetzt etwa sterben, nur weil sie buchstäblich aus den Latschen gekippt ist, von einem Schritt auf den andern? Das erste Kapitel eine Tragödie, das zweite immer eine Farce – hat sie Marx nur gelesen, um zu wissen, dass es jetzt wirklich mit ihr zuende geht? Woran erkennt man den letzten Moment? Daran, dass so viele Gedanken in ihm gedacht werden können, wie in keinem andern? Was ist das für ein Schlund, der sich da auftut und sämtliche Gedanken, die einer denken kann, in sich hineinsaugt, fragt sie sich, und wo war dieser Schlund zuvor? Was wird nur aus ihrem Sohn, wenn sie jetzt aus dem Leben hinausstürzt?
    3
    A n dem Vormittag, an dem seine Mutter verbrannt wird, sitzt der Sohn zwei Stunden zu Hause auf dem Sessel am Schreibtisch, da, wo seine Mutter beim Arbeiten immer gesessen hat, und wartet, dass die Zeit vergeht.
    Für ihr Schaffen wurde sie in den letzten Jahren mit zahlreichen hohen Preisen und Auszeichnungen unserer Republik geehrt, darunter mit der Genosse-G.-Medaille, dem Großen Vaterländischen Verdienstorden sowie dem Goethe-Preis.
    Der Schreibtischsessel ist mit blauem Kunstleder bezogen und lässt sich um die eigene Achse drehen. Er hat sich als Kind manchmal darauf gesetzt und gedreht, bis ihm schwindlig wurde. Dass seine Mutter sich jemals mit dem Sessel gedreht hat, glaubt er nicht.
    Ihr Wirken um das Schöne und Wahre wird uns Vermächtnis und Anreiz sein im Kampf um die Wiedervereinigung unserer Heimat und den Frieden.
    4
    L iebe Mutter , hat sie gegen Ende des Krieges ihrer Mutter geschrieben, liebe Mutter, mir geht es sehr gut. Ich habe inzwischen einen Sohn bekommen, er ist jetzt drei Jahre alt und heißt Sascha. Wie lange war es da schon her, dass die Mutter ihr die Schachtel mit den goldfarbenen Knöpfen vom Beamtenmantel des Vaters nach Moskau geschickt hatte? Und sie hatte sich nicht einmal dafür bedankt. Hatte gedacht, die Mutter wolle sich nun auch

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