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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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dem die Stufen belegt sind, ist an einer Stelle zerkratzt, ist das die Stelle? Oder waren die Kratzer schon immer da? Ist seine Mutter abgerutscht oder gestolpert? Auf welcher der Stufen lag denn ihr Kopf, als sie aufgehört hat zu atmen? Aber selbst wenn er alles über den letzten Moment wüsste, in dem seine Mutter gelebt hat, dann wüsste er dennoch nicht, was das hieß, dass sie jetzt tot war. Gestern wurde die große Künstlerin H., die Trägerin der Genosse-G.-Medaille, der Ehrennadel zum Großen Vaterländischen Verdienstorden in Gold, des Goethe-Preises sowie zahlreicher anderer hoher und höchster Auszeichnungen unserer Republik, plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen. Wir werden der tapferen Antifaschistin und der der Sache der Arbeiterklasse treu ergebenen Genossin H. auf ewig ein ehrendes Angedenken bewahren.
    8
    S ie stürzt, und im Stürzen fragt sie sich, ob der Sturz wirklich damit enden wird, dass sie sich den Hals bricht.
    Weißt du, ich habe noch immer keine Antwort auf die Eingabe wegen der Straßenbahnhaltestelle Kastanienallee, Ecke Schönhauser.
    Die werden sich schon noch melden, sagt ihr Mann und streicht sich die Haarsträhne aus dem Gesicht.
    Würde nämlich die Haltestelle weiter nach vorn verlegt, gäbe es dort nicht Tag für Tag Stau.
    Sie stürzt, und während sie stürzt, schämt sie sich dafür, dass sie stürzt.
    Ach was, das kann jedem passieren.
    Ich habe auch wegen der Zustände im Feierabendheim Landsberg geschrieben. Die müssen mehr Personal einstellen, den alten Leuten geht’s schlimm dort, hat mir jemand erzählt.
    Das hast du richtig gemacht.
    Und wegen der Intourist-Reisen nach Finnland, die sind schlecht organisiert.
    Ist Finnland schön?
    Sicher. Und denk dir, beim Volkseigenen Betrieb Vergaser-und Filterwerke kann man keine Ersatzteile direkt bestellen.
    Ach was.
    Das muss sich ändern.
    Auf jeden Fall.
    Sie stürzt jetzt aus dieser Welt hinaus, in der es noch so viel zu tun gäbe, bis alles so wäre, wie es sein soll. Wer wird sich, wenn sie nicht mehr ist, um diesen Staat kümmern, der ihr Staat ist und noch in den Kinderschuhen steckt?
    9
    Ü ber den unsichtbaren Körper seiner Mutter hinweg, genaugenommen durch ihn hindurch, geht er nun doch die Treppe hinauf, nach oben. Immer wird er jetzt, wenn er die Treppe hinaufgeht, über den unsichtbaren Körper seiner Mutter hinweg-, beziehungsweise durch ihn hindurchgehen. Eigentlich hat seine Mutter nur die Seiten gewechselt. Aber er weiß nicht, wo die Seiten sind. Die Zeit und die Ewigkeit. Man kann doch in die Ewigkeit keinen Fuß hineinsetzen. Man erreicht sie nur durchs Fallen. Und das Fallen?
    Der Bademantel, den seine Mutter beim Abschied am Gartentor noch trug, hängt jetzt im Bad an dem Haken, an den sie ihn immer hängt, wenn sie sich anzieht. Immer gehängt hat, wenn sie sich anzog. Er greift, er weiß selbst nicht warum, in die Tasche des Bademantels, darin steckt ein gebrauchtes Papiertaschentuch. Das Papiertaschentuch ist noch in der Gegenwart, aus der seine Mutter inzwischen hinausgestürzt ist. Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du in den Ruinen kletterst! Ohne ihn wäre sie ganz allein auf der Welt! Jetzt ist es umgekehrt. Er geht die Treppe wieder hinunter, durch die unsichtbare Mutter hindurch.
    Kaum ein anderer Dichter verstand es, den sozialistischen Aufbau so anschaulich zu schildern wie die große Schriftstellerin H., deren Leben vorgestern auf so tragische Weise plötzlich und unerwartet zuende ging.
    Eigentlich ist noch alles wie immer. Der Blumenstrauß, der auf dem Tisch im Empfangszimmer steht, ist noch ganz frisch. Er setzt sich auf das Sofa, auf dem schon oft der Kulturminister gesessen hat und die Tochter des Präsidenten, eine gute Freundin der Mutter, auch die Leiterin der Salatbrigade des Fischverarbeitenden Kombinats Sassnitz hat dort gesessen (die Salatbrigade trägt ehrenhalber den Namen seiner Mutter), gesessen hat dort der Aktivist der ersten Stunde, Adolf Hennecke, er wohnt zwei Häuser weiter, achtjährige Pioniere saßen auf diesem Sofa seiner berühmten Mutter gegenüber und wollten von ihr wissen, wie man Schriftstellerin wird, eine rheumakranke Frau setzte sich genau hier hin, wo jetzt er sitzt, könnte die Mutter vielleicht für sie eine Eingabe schreiben, damit sie zur Kur darf nach Sotschi?, aber auch der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes saß schon hier, und ein andermal der Intendant der Volksbühne Berlin, zusammen mit dem berühmten

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