Allerliebste Schwester
gesprochen. Sie waren so eng miteinander verbunden, aber Eva weiß nicht einmal, wie der Sex zwischen ihrer Schwester und Tobias war. Über so etwas hätte Marlene nie geredet, viel zu intim so ein Thema, auch wenn es doch genau
genommen die natürlichste Sache der Welt ist. Eine Sache, die jeder tut. Ob Marlene es mochte, mit ihrem Mann zu schlafen? Natürlich wird sie es gemocht haben! Sie haben sich ja geliebt. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn …
Eva dreht den Kopf zur Seite und sieht zu dem Korbsessel, der auf ihrer Seite des Bettes steht. Darin sitzt nun Marlene und beobachtet sie. Sie lächelt. »Nein, so haben wir es nicht gemacht, nie«, sagt sie. »Tobias wollte das mit mir nicht tun. Das kam ihm immer so … animalisch vor.« Siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig … So tief ist er nun in ihr, dass es schmerzt, alle Muskeln spannt sie an, um seine Stöße abzufedern. Irgendwann ein Aufstöhnen. Das Tier lässt von ihr ab.
Eva dreht sich zur Seite, Tobias rückt an sie heran, schlingt einen Arm um sie. Sie zittert, leicht nur, aber er merkt es trotzdem.
»Liebling«, er zieht sie noch fester an sich heran, »habe ich dir wehgetan?« Sie antwortet nicht. »Das wollte ich nicht, es tut mir leid, ich war … Der Wein, weißt du, ich … ich …«
»Es ist gut«, erwidert sie, »mach dir keine Gedanken.« Ein Seufzen.
»Dann schlaf schön«, atmet er warm in ihr Ohr. Evas Gedanken kreisen immer noch um Marlene, die jetzt nicht mehr in dem Sessel sitzt. Sie versucht, das Karussell in ihrem Kopf zum Stehen zu bringen. Und trotz der Umklammerung, die ihr fast die Luft nimmt, einzuschlafen.
»War’s ein schöner Geburtstag?« Gabriele ist gerade dabei, die große Schaufensterscheibe zu putzen, als Eva am nächsten Tag zur Arbeit kommt.
»Hm«, sagt Eva. »Wir waren essen.«
»Wo denn?«, fragt ihre Chefin. Eva nennt den Namen des Restaurants, in dem man nur so schwer einen Platz bekommt. »Wie nett«, meint Gabriele. »Da wollte ich auch immer mal hin, aber meinen Klaus kriegt man ja kaum vom Sofa hoch.« Sie wischt mit einem trockenen Handtuch nach, dann bringt sie den Eimer und die Putzsachen zurück in die kleine Toilette, die vom Büro abgeht, und kommt eine Minute später mit einem Päckchen in der Hand zurück. »Für dich«, sagt sie und gibt es Eva.
»Du hast mir doch schon was geschenkt!«
»Ist auch nicht von mir. Habe ich heute früh im Briefkasten gefunden.« Eva wiegt das Päckchen in ihrer Hand. Tatsächlich hat jemand auf das rote Geschenkpapier »Eva« geschrieben. Sie wundert sich.
»Von wem das wohl ist?«
»Mach’s auf, dann weißt du es«, sagt Gabriele. Neugierig reißt Eva das Papier auf. Zum Vorschein kommt ein dunkelblaues Buch. Es ist alt und gebraucht, der Schutzumschlag fehlt, die Ecken und Kanten des Leineneinbands sind stark abgestoßen: Astrid Lindgren erzählt.
Sofort fangen Evas Handgelenke wieder an zu kribbeln. Zu unwahrscheinlich scheint das, was sie gerade denkt. Vorsichtig schlägt sie den Deckel auf.
»Alles Liebe zum Geburtstag«, steht da. Und ein Name: Simon. Darunter eine Handynummer.
Schnell klappt sie den Deckel wieder zu. Außer ihr soll das keiner sehen.
»Ein altes Buch?«, wundert sich ihre Chefin. »Wer schenkt dir denn so was?«
»Jonas Petter«, sagt sie und lächelt. »Von dem habe ich dir schon einmal erzählt.«
»Der, von dem du dachtest, ihn gesehen zu haben?« Eva nickt. Jetzt grinst Gabriele und deutet ein verschwörerisches Zwinkern an.
»Ist wohl ein geheimer Verehrer, was?«
»Ja. Ganz geheim. Erzähl es keinem.«
»Von mir erfährt niemand auch nur ein Wort«, beteuert Gabriele und legt sich einen Finger an die Lippen.
»Das ist gut.«
6
Heiligabend sind ihre Eltern und Schwiegereltern zu Besuch. Mittlerweile finden es alle in Ordnung, dass Eva den Platz ihrer Schwester eingenommen hat. Alles in allem doch sehr praktisch, diese Lösung. Die Empörung dauerte nur wenige Wochen. Inzwischen wird nicht mehr darüber gesprochen. Ebenso wenig wie über Lukas, er ist tot und wird nun auch konsequent totgeschwiegen.
Und nun also Weihnachten im Kreis der Familie. Mittags Würstchen mit Kartoffelsalat, abends Entenbrust mit Rotkohl und Semmelknödeln. Dazwischen Bescherung bei Kaffee und Kuchen. Pflichtbewusst schenkt Eva das dunkle Gebräu ins gute Porzellan ein. Vorher hat sie den Tisch eingedeckt, nachher wird sie ihn wieder abräumen und in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine stellen, den restlichen Kuchen auf einem
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