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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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Teller anordnen, ihn mit Frischhaltefolie abdecken und ins Kühlschrankfach schieben. Ihre Mutter Gerlinde wird fragen, ob sie ihr helfen soll, was Eva lächelnd ablehnen wird. Traditionelle Rollenverteilungen geben auch eine gewisse Sicherheit.

    Das Reihumverteilen der Geschenke: Eva nimmt das übliche Schmuckkästchen von Tobias, den Seidenschal und die Handtasche von ihren Eltern und eine Packung Satinbettwäsche von ihren Schwiegereltern dankend entgegen. Dann überreicht sie ihrem Mann einen Golfschläger (ein 7er-Eisen von Callaway) und einen Gutschein über sechs Schnupperstunden; all dies hat sie in einem Hamburger Golfclub besorgt, nachdem Tobias vor Kurzem erwähnte, er würde diesen Sport gern mal ausprobieren. Mama und Papa bekommen zwei Karten für einen Musicalbesuch, die Schwiegereltern eine Kiste Wein.
    »Danke, mein Liebes«, sagt Schwiegermutter Anni und haucht Eva einen Kuss auf die Wange. Dann setzt sie ihre Kaffeetasse an. »Du siehst heute wieder ganz bezaubernd aus, mit jedem Jahr wirst du hübscher.« Sie wendet sich an ihren Mann. »Wird sie nicht jedes Jahr hübscher, Rolf?« Der nickt zustimmend und konzentriert sich dann auf sein Stück Käsekuchen.
    »Ein bisschen dünn ist sie geworden«, sagt ihre Mutter, als wäre Eva gar nicht mehr im Zimmer. »Nur noch Haut und Knochen ist sie.«
    Ihr nicht, denkt Eva, während ihr Blick erst über die dicken Arme ihrer Mutter und dann über den Kugelbauch ihres Vaters Manfred wandert. Wie soll man auch Haut und Knochen werden von guter deutscher Hausmannskost und täglichem Kaffeetrinken? Vom Fressen, Fressen, Fressen, den ganzen Tag, nichts als Fressen?
    »Danke, Schatz«, sagt ihr Vater, nachdem sie seine Tasse noch einmal nachgefüllt hat. Eva nimmt ihren
Platz neben Tobias ein, sitzt schweigend an der Kaffeetafel. Gesprächsfetzen plätschern an ihr vorüber. Vom Kanaren-Urlaub ihrer Eltern, der für Januar geplant ist, von den neuen Schlafzimmermöbeln der Schwiegereltern. Sie besprechen die stetig steigenden Spritpreise, die aktuelle Diät ihrer Mutter, die sie über Weihnachten natürlich aussetzt, Digitalkameras, Lebensmittelskandale, Gesundheitsreform, Kommunalpolitik, Schönheitschirurgie, Laminatböden, Kochrezepte, Waschmaschinen, Edelstahltöpfe … Die Worte verlieren ihren Sinn, wummern im rasenden Rhythmus durch Evas Kopf. Immer lauter, lauter, lauter, der Schädel droht ihr zu zerplatzen.
    »Eva?« Tobias.
    »Ja?«
    »Was ist los?«
    »Was soll los sein?«
    »Du hast gesummt.«
    Sie sieht ihn verständnislos an. »Gesummt?«
    »Ja, erst ganz leise, dann immer lauter. Irgendwie abwesend.« Jetzt merkt sie, dass sich auch die anderen vier Augenpaare am Tisch auf sie heften. Gesummt hat sie also. Sie kann sich nicht erinnern. Nicht mal mehr daran, wie man das macht. Es ist ja schon so lange her, dass sie einen eigenen Ton hat entstehen lassen.
    »Oh«, sagt sie. Noch immer beäugen die anderen sie, als wäre sie ein seltenes Tier, ein ekliges dazu. Dann fängt Eva an, laut zu lachen. Tobias legt einen Arm um ihre Schulter.
    »Was hast du?« Sie kann nicht antworten, muss sich
ausschütten vor lauter Lachen, kann gar nicht mehr aufhören, Tränen laufen ihr über die Wangen, sie möchte den Rest ihres Lebens einfach nur noch lachen. Was wäre das für ein schönes Leben: lachen, lachen, lachen! Tobias schiebt seinen Stuhl zurück, steht auf und zupft leicht an Evas Ellbogen. »Komm, Liebling, besser, du legst dich einen Moment hin.«
    Störrisch schiebt sie seine Hand weg. »Nein«, insistiert sie. »Ich bin überhaupt nicht müde, und mir geht es ganz ausgezeichnet.« Ihr Mann sieht sie skeptisch an.
    »Das glaube ich nicht. Du machst einen völlig verwirrten Eindruck.«
    »Das ist nur, weil ihr ständig über Sachen redet«, erwidert sie, greift mit einer trotzigen Bewegung nach ihrer Gabel und lässt sie dann laut klirrend auf ihren Teller niedersausen.
    »Was für Sachen meinst du denn?«, fragt Tobias, fasst nach ihrer Hand, die sie ihm aber entzieht.
    »Na, Sachen eben!«, schreit sie ihn an. »Über belanglosen Krempel. Keiner spricht darüber, was wirklich wichtig ist. Über den Tod. Über das Leben. Und darüber, warum das alles ohne jeden Sinn ist.« Evas Mutter schnappt hörbar nach Luft, ihr Vater wirft dem Schwiegerpapa einen besorgten Blick zu.
    »Eva«, wiederholt Tobias noch einmal, jetzt eindringlicher, flehend. »Bitte! Ich möchte, dass du dich beruhigst, du bist gerade nicht mehr du selbst.«
    Nicht mehr sie selbst.

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