Allerliebste Schwester
Das könnte sie ändern. O ja, sie könnte allen zeigen, wie sie wirklich ist. Wie sie immer
war, immer, bis das alles passiert ist. Eva springt auf, rennt aus dem Esszimmer, hinaus in den Flur, sucht ihre Jacke, findet darin die Schachtel mit den Zigaretten. Schnell das Feuerzeug, eine anzünden, dann spaziert sie langsam zurück ins Wohnzimmer. Setzt sich grinsend an den Tisch, pustet ein paar wohlgeformte Rauchkringel in die Luft, eine Provokation für alle.
»Kind«, ruft ihre Mutter aus. »Ich denke, du rauchst schon lange nicht mehr.«
»Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst«, singt Eva fröhlich, nimmt einen weiteren tiefen Zug von ihrer Zigarette und ascht ihrer Schwiegermutter in die Kaffeetasse.
»Jetzt reicht es aber«, poltert ihr Schwiegervater los. Dann, zu Tobias: »Was ist eigentlich mit deiner Frau los?« Uiii, denkt Eva, jetzt muss er sich für mich rechtfertigen. Eltern haften für ihre Kinder. Männer für ihre Ehefrauen. Titelschlagzeile in BILD: Was tut SIE (gelber Pfeil zeigt auf ein Foto von Eva) IHM (Pfeil auf ein Foto von Tobias) da nur an?
»Ihr müsst das verstehen«, beginnt Tobias sofort sein Verteidigungsplädoyer. »Eva hat eine schwere Zeit hinter sich.« Tobias zu ihr: »Schatz, lass das bitte.« Er will ihr die Zigarette aus dem Mund schnappen, aber Eva dreht sich schnell zur Seite. »Eva!«, mahnt er jetzt, »bitte!« Kichernd reicht sie ihm ihre Zigarette, er nimmt sie, sieht sich einen Moment lang unschlüssig um und drückt sie dann auf seinem Teller aus.
»Du weißt doch, dass Nikotin schlecht für die Fruchtbarkeit
ist«, wird Eva nun von ihrer Mutter belehrt. »Und wenn ihr …«
»Was ist denn das?« Evas Vater Manfred. Fassungslos starrt er auf das linke Handgelenk seiner Tochter, wo der Pulswärmer verrutscht ist und den Blick auf das blaue Kreuz freigibt.
»Ein Kreuz«, erklärt Eva lapidar. Dann schiebt sie auch am anderen Handgelenk den Pulswärmer hoch. »Und hier ist noch eins.«
»O Gott!«, ruft Anni aus und auch die anderen am Tisch verleihen ihrem Entsetzen Ausdruck, als hätten sie soeben eine Leiche unter der festlich gedeckten Tafel gefunden.
»Ich weiß auch nicht, warum sie das gemacht hat«, wirft Tobias ein, der wohl Angst hat, man könnte ihm erneut die Schuld für ihr ungebührliches Betragen geben. »Vor ein paar Wochen kam sie damit nach Hause.«
»Ich halte das für eine Stressreaktion«, doziert Schwiegervater Rolf, selber Arzt, und nicht nur irgendeiner, nein, Chefarzt in der Neurologie des Universitätsklinikums. »Vielleicht sollte Eva in der nächsten Zeit ein paar Beruhigungsmittel nehmen«, schlägt er an seinen Sohn gewandt vor, als müsste Tobias diese Entscheidung für seine Frau treffen.
»Ich denke, das wird nicht nötig sein«, sagt der, »Eva sollte sich einfach nur ein bisschen ausruhen.«
»Wie du meinst.« Rolf räuspert sich. »In jedem Fall kenne ich einen sehr guten Dermatologen, mit Laser lässt sich so etwas wie das da«, er zeigt auf »das da«, »heutzutage ganz einfach entfernen.«
»Guckt mal!«, unterbricht Eva den Strom nicht erbetener Ratschläge. Sie nimmt die Tischdecke aus Damast in beide Hände, konzentriert sich kurz und reißt sie im nächsten Augenblick mit einem heftigen Ruck herunter. Es klirrt und scheppert, das gute Porzellan geht zu Boden. »Oh«, staunt Eva über die umgefallenen Tassen, die zerbrochenen Teller, die umgestürzte Kaffeekanne. »Das habe ich mal im Fernsehen gesehen, da sah es ganz einfach aus.« Die anderen starren nur wortlos. Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.
»Findest du das lustig?«, fährt Tobias sie an und greift dabei wieder nach ihrem Arm, diesmal fester als vorhin. »Ich bringe dich jetzt ins Bett.« Er zieht sie vom Stuhl hoch, diesmal lässt sie es widerstandslos geschehen.
»Ja, vielleicht hast du recht«, sagt sie. »Ich bin schrecklich müde und lege mich besser eine Stunde hin.«
Tobias führt Eva aus dem Zimmer ab. Sie hört noch, wie ihre Mutter sagt: »Ich bin wirklich ratlos. Irgendwann muss sie sich doch wieder fangen! Und jetzt auch noch diese schrecklichen Tätowierungen, ich begreife das alles nicht! Was sollen wir mit ihr denn nur machen?« Gar nichts, denkt Eva. Ihr sollt einfach gar nichts machen.
Tobias kommt mit ins Schlafzimmer, überwacht, wie Eva sich auszieht und unter die satinbezogene Decke schlüpft.
»Ruh dich ein bisschen aus.« Jetzt klingt er wieder liebevoll, besorgt. »Es war wohl
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