Allerliebste Schwester
wäre da eine Verbindung zwischen ihm und ihr, wie ein Sicherheitsseil, das sie nur ergreifen muss, um nicht vollends abzustürzen. Täuscht dieses Gefühl? Oder gibt es in Wahrheit niemanden, der sie retten kann? Ihr kommt der nächste Gedanke: Wenn es gar nicht mehr geht, kann ich mich immer noch selbst retten. Es braucht nur ein kleines bisschen Mut. Immerhin war ihre Schwester auch schon so tapfer. Und jeder weiß, wie ähnlich Zwillinge sich sind.
Aber warum, schießt ihr sofort wieder die Frage durch den Kopf, die Eva seit Jahren quält, hat Marlene es getan? Sie war doch glücklich. Ihr gefiel das alles: die Weihnachtsessen mit der Familie, Einrichtungshäuser, Spielabende mit Freunden, Kindergeburtstage bei Bekannten, die bereits Nachwuchs hatten. War es wirklich nur der unerfüllte Kinderwunsch, der sie so verzweifeln ließ? Oder gab es doch einen anderen Grund?
7
Am 12. Februar beschließt sie, dass es nun an der Zeit ist. In den vergangenen Wochen ging es ihr wieder besser, der Gedanke an das Buch mit der Telefonnummer hat sie gestärkt, außerdem hat Tobias sie weitestgehend in Ruhe gelassen. Sie kann es nun aushalten, eine Antwort abzuwarten. Oder vielleicht überhaupt keine zu bekommen, weil das Geschenk gar nicht so gemeint war. Aber warum sonst die Telefonnummer?
Tobias ist in die Firma gefahren, Eva hat sich für heute frei genommen, in den Wochen vor Weihnachten war sie fast jeden Tag im Geschäft. Zu Beginn des Jahres ist immer am wenigsten zu tun. Sie holt ihr Handy aus der Tasche, beginnt eine Nachricht zu schreiben. Dann schickt sie die SMS an die Nummer, die sie schon so oft im Geiste gewählt hat.
Danke für das Buch! Können wir uns treffen? Barbro
Eine Sekunde später ein Piepen, die Nachricht ist beim Empfänger angekommen. Schnell schaltet Eva ihr Handy aus. Sie will es erst in ein paar Stunden wieder einschalten, wenn die Chance größer ist, eine Antwort zu haben.
Im Badezimmer lässt Eva Wasser in die Wanne laufen, gießt Öl hinein, legt ein Handtuch bereit. Ihre Kleider stopft sie in den Wäschekorb neben der Heizung. Dann betrachtet sie sich in dem großen Spiegel über dem marmornen Waschtisch mit den zwei eingelassenen Becken. Nur noch Haut und Knochen, hat ihre Mutter gesagt. Und ihre Mutter hat recht. Zwischen ihren kleinen Brüsten zeichnet sich deutlich das Sternum ab, links und rechts vom Hals liegen zwei tiefe Mulden, jede einzelne Rippe lässt sich zählen, sie hat ein schmales Becken und dürre Beinchen. Nur noch Haut und Knochen, ein Ding ohne Seele. Früher war das anderes. Da war ihr das Leben anzusehen. Aber mit jedem Tag, den sie in diesem gottverdammten Haus mit diesem gottverdammten Mann verbringen musste, ist es mehr und mehr aus ihr entwichen. Wie so oft denkt sie an Lukas. Für ihn hätte sie leben wollen. Für den einzigen Sinn, den sie sich noch hätte vorstellen können.
Sie holt eine Zigarette aus ihrer Handtasche, zündet sie an und stellt sich wieder vor den Spiegel. Pustet sich selbst den Rauch ins Gesicht. Nach wenigen Zügen wirft sie die Kippe in den Ausguss, dreht den Wasserhahn auf und lässt sie in den Tiefen der Kanalisation verschwinden. Es nützt ja nichts, damit wird es nicht schnell genug gehen.
Marlene steht neben ihr. Sie trägt ihr rotes Lieblingskleid, das sie früher immer zu besonderen Anlässen anzog.
»Du hättest es nicht tun müssen«, stellt ihre Schwester
fest und streicht ihr mit einer Hand zaghaft über den Rücken. »Keiner hat von dir verlangt, dass du meinen Platz einnimmst.«
»Doch«, antwortet Eva. »Ich musste das tun.« Marlene lacht.
»Du musstest es? Früher hast du dich nie darum geschert. Im Gegenteil: Immer, wenn du etwas musstest, hast du es erst recht nicht gemacht.«
»Ich wollte, dass du weiterlebst, dass deine Träume sich noch erfüllen.«
»Und was ist mit dir?«, fragt Marlene und legt ihre Wange ans Gesicht ihrer Schwester.
»Mit mir?«
»Ja.« Marlene betrachtet Eva schweigend im Spiegel.
»Ich …«, Eva sucht nach den richtigen Worten. Sie schließt die Augen, versucht, ihre Gedanken zu ordnen. »Mich hat niemand vermisst.«
»Doch«, widerspricht Marlene, »ich vermisse dich. Ganz schrecklich sogar.«
»Warum?« Keine Antwort. »Warum denn nur?«, widerholt sie, doch Marlene schweigt. Eva öffnet die Augen. Ihre Schwester ist wieder fort, Eva sieht nur noch sich selbst im Spiegel. »Marlene?«, ruft sie. Dann ein weiteres Mal: »Marlene?« Aber sie bleibt allein.
Sie dreht sich zur
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