Allerliebste Schwester
wirklich ein bisschen viel Stress für dich.« Er beugt sich zu ihr hinunter, haucht ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich wecke dich rechtzeitig zum Abendessen«, sagt er noch, bevor er die schweren Vorhänge zuzieht, das Licht ausschaltet und dann die Tür hinter sich schließt.
Aber Eva ist gar nicht müde. Kaum hört sie, wie seine Schritte sich entfernen, setzt sie sich auf, schaltet die Leselampe ein und zieht die Schublade ihres Nachttischs auf. Ganz hinten, versteckt unter Taschentüchern, Halstabletten, Persona-Teststäbchen, Gelbkörperhormonen und Folsäure liegt es. Das alte Buch, das Colani-Simon ihr geschenkt hat. Sie holt es hervor, streicht über den lädierten leinenen Einband. Dann schlägt sie es auf und liest seine Telefonnummer. Sie kann sie längst auswendig, in Gedanken hat Eva sie in den vergangenen Wochen schon tausendmal gewählt.
Aber sie tut es nicht. Noch nicht. Sie genießt den Schwebezustand, die Freiheit, es jeden Tag tun zu können. Jeden Tag entscheiden zu können, was passiert. Sie ist am Zug, das ist besser, als darauf warten zu müssen, was der andere tut. Besser, als in einer Erwartung zu verharren, der Erwartung, dass der andere einen Anruf oder eine SMS erwidert. So hat sie alles in der Hand. Sie schließt das Buch, streicht noch einmal darüber und versteckt es wieder in der Schublade.
Sie rutscht zurück unter die Decke, dreht sich zur Seite und schläft kurze Zeit später ein. Im Traum wiederholt sie den Tischdecken-Trick. Diesmal klappt es,
alles bleibt auf dem Tisch stehen. Und alle sind ganz stolz auf sie.
Erst am Morgen darauf wacht sie wieder auf, den Heiligen Abend hat sie verschlafen, und niemand hat sie geweckt. Tobias ist nicht da, seine Seite des Bettes ist leer und sieht auch so aus, als wäre sie die ganze Nacht unberührt geblieben, wahrscheinlich hat er im Gästezimmer geschlafen. Eva steht auf, holt Wäsche, Pullover und Jeans aus dem Schrank, streift die Sachen über und geht runter in den Flur. Aus der Küche hört sie Geräusche.
»Guten Morgen.« Tobias dreht sich kurz zu ihr um, er ist gerade dabei, das Geschirr vom Vorabend wegzuräumen. Die Ente hat dann wohl doch noch allen geschmeckt. Er sagt nichts, sondern wendet sich wieder seiner Tätigkeit zu, stellt die handgespülten Weingläser ins Regal. Am liebsten würde Eva ihn einfach machen lassen und wieder gehen. Aber das kann sie nicht. Sie weiß ja, dass er etwas von ihr erwartet. Dass sie eine Pflicht hat.
Sie geht zu ihm, legt ihre Arme von hinten um ihn, drückt ihn an sich. Nun stellt er das Glas ab, das er in der Hand hält, dreht sich zu ihr um, erwidert ihre Umarmung.
»Tut mir leid, dass ich mich gestern so benommen habe«, entschuldigt sie sich bei ihm. »Ich wollte euch nicht das Weihnachtsfest verderben.« Tobias schiebt sie ein Stück von sich weg, betrachtet sie schweigend, mustert sie, als wolle er überprüfen, ob sie das wirklich ehrlich meint.
»Ich möchte, dass alles wieder so wird, wie es früher war«, sagt er leise und streicht dabei mit einer Hand über Evas Rücken.
»Das möchte ich auch«, erwidert sie. Und denkt, dass er keine Ahnung hat, wie sehr sie sich das tatsächlich wünscht. Alles soll wieder so werden, wie es einmal war. Allerdings so, wie es wirklich mal war. Aber Marlene wird nicht zurückkommen, solche Wunder geschehen nicht einmal Weihnachten.
»Manchmal weiß ich gar nicht mehr, was ich noch tun soll«, sagt Tobias und küsst seine Frau aufs Haar. »Du bist mir dann so schrecklich fremd, ich verstehe nicht, was da in dich fährt.« Wieder küsst er sie. »Wir haben so viele schlimme Dinge erlebt, aber zusammen schaffen wir das. Ich möchte doch einfach nur, dass wir wieder glücklich werden.« Er zieht sie erneut an sich.
»Ja«, sagt sie und drückt sich noch etwas fester gegen ihn. So fest, dass sie nicht weglaufen kann. Eine Weile bleiben sie so stehen, dann lässt Tobias sie los, wendet sich wieder dem Geschirr zu.
»Ich soll dich von allen grüßen und dir gute Besserung wünschen«, findet er im nächsten Moment in den Alltag zurück.
»Danke.« Sie macht sich daran, Tobias beim Aufräumen zu helfen. Und denkt kurz darüber nach, wie sie dieser Besserungsanstalt wohl entkommen könnte.
Die Telefonnummer in dem dunkelblauen Buch. Simon. Könnte er ihr Retter sein? Sie weiß selbst nicht, warum diese kurze Begegnung im Buchladen und sein Geschenk sie so berühren, schließlich ist er ein Fremder
für sie. Aber es fühlt sich so an, so, als
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