Allerliebste Schwester
»Ich bin gestürzt. Es fehlte nicht viel, und eine von uns beiden wäre damals auf der Straße überfahren worden.«
»Und dein Vater hat euch als Kinder oft geschlagen?«, will Simon wissen.
»Nicht uns«, erklärt sie. »Mich. Ich war die Böse, weißt du, Marlene die Gute.«
»Das glaube ich nicht«, flüstert er. Wenn er wüsste!
Er nimmt ihr die CD aus der Hand, legt sie zurück in den Schrank und schließt die Türen. Und als wäre es eine Nebensächlichkeit sagt er: »Ich liebe dich. Weißt du das?« Nein. Woher sollte sie?
17
Sie weiß es schon, als sie am nächsten Tag um elf nach Hause kommt und das Auto von Tobias in der Einfahrt steht. Weiß es mit einer Selbstverständlichkeit, die sie nicht einmal erstaunt, denn in diesem Moment erscheint ihr alles vollkommen folgerichtig und logisch. Es war klar, dass »die Sache« - wie hatte Gabriele es genannt? - nicht »gut gehen«, dass Eva den Bogen damit überspannen würde. Und jetzt steht sein Auto also vor dem Haus, um elf Uhr an einem Arbeitstag, mitten in einem wichtigen Projekt. Wie er es wohl herausgefunden hat? Nun, sie wird es gleich erfahren.
Sie schließt auf, geht hinein, stellt ihren kleinen Koffer ab und hängt ihren Mantel an die Garderobe. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen, Eva geht hinein und sieht Tobias auf dem Sofa sitzen. Ruhig, scheinbar entspannt, sitzt er da, auf dem Couchtisch vor ihm qualmt eine Zigarette im Aschenbecher. Und das Buch, das Astrid-Lindgren-Buch, das Simon ihr geschenkt hat, liegt dort ebenfalls. Daher also.
Als sie eintritt, blickt ihr Mann auf. Das Gesicht aschfahl, die Augen liegen in dunklen Höhlen, viel wird er
in der Nacht nicht geschlafen haben. Ein seltsamer Impuls ergreift von Eva Besitz, als sie ihn da so sieht, der Impuls, auf ihn zuzueilen und ihn zu trösten, zum ersten Mal, seit sie ihn kennt, bemerkt sie an ihm eine Verletzlichkeit.
»Wo warst du?« Seine Stimme wirkt gefasst, im Unterschied zu seinem Gesichtsausdruck. Schweigend bleibt Eva in der Tür stehen. »Wo du warst, will ich wissen«, wiederholt er, immer noch ruhig, fast freundlich oder besorgt.
»Auf dem Buchhändlerabend.« Eine unsinnige Antwort, aber die erste, die Eva eingefallen ist. Dann geht alles blitzschnell, Tobias springt vom Sofa auf, stürzt auf sie zu und versetzt ihr eine Ohrfeige. Fast fällt sie hin, findet im letzten Moment wieder die Balance. Hat sie nicht gedacht, sie wäre zu alt, um noch Prügel zu beziehen? Plötzlich muss Eva lachen, sie reibt sich mit einer Hand über ihre schmerzende Wange und lacht.
»Ich wüsste nicht, was daran so komisch ist«, fährt Tobias sie an. Dabei ist es komisch, sogar saukomisch findet Eva das. Ihr Mann steht wütend vor ihr und hat ihr eine geknallt, als wäre sie eine halbe Stunde zu spät von einer Party nach Hause gekommen oder hätte zu viel Lärm gemacht.
»Wer ist Simon?«, will er als Nächstes wissen und deutet auf das blaue Buch auf dem Couchtisch.
»Wieso wühlst du in meinen Sachen herum?«, fragt Eva zurück, beugt sich vor, greift nach dem Buch und hält es eng an ihre Brust gedrückt.
»Warum ich in deinen Sachen rumwühle, willst du
wissen? Ganz einfach: Weil ich feststellen muss, dass meine Frau gar nicht da war, wo sie behauptet, gewesen zu sein!«
»Na, wo ist sie denn wohl sonst gewesen?«, erwidert Eva und weicht zugleich einen Schritt zurück, aus Angst vor weiteren Schlägen.
»Jedenfalls nicht irgendwo in der Lüneburger Heide«, schreit er. »Ich habe mit Gabriele gesprochen.«
»Mit Gabriele?« Jetzt wundert sie sich tatsächlich. Ich-bin-deine-Freundin-Gabriele hatte ihr fest versprochen, vom Abend bis zum nächsten Vormittag nicht mehr an ihr Telefon zu gehen, für den Fall, dass Tobias aus irgendwelchen Gründen versuchen würde, sie anzurufen. Ihr eigenes Handy hatte Eva wie schon so oft ausgeschaltet.
»Dein Handy war mal wieder aus«, kommt es prompt von ihrem Mann. »Und Gabriele ging auch nicht an ihres.« Also doch, sie hat sich an die Abmachung gehalten.
»Warum wolltest du mich überhaupt unbedingt sprechen? Stand das Haus in Flammen?« Noch einen Schritt weiter von ihm weg, man weiß ja nie. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, Better be safe than sorry, sicher im Leben ist nur der Tod.
»Nein.« Jetzt wieder ganz ruhig. Klar. Kalt. »Ich wollte wissen, wo dein Autoschlüssel liegt, weil ich dachte, du hättest vielleicht noch ein paar Pflaster im Verbandskasten.« Er hält eine Hand hoch, zeigt ihr, dass sein Zeigefinger
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