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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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weiteren Glas Wein auf der Couch sitzen, »richtig nett und gemütlich.«
    »Ja?«, fragt Eva und sieht sich in »ihrer« Wohnung um. Sie hat wohl wirklich eine gute Wahl getroffen. Das Sammelsurium aus verschiedenen Möbeln, die nicht so recht zueinanderpassen, verleiht dem Appartement einen gewissen Charme. Nicht perfekt - und gerade deshalb stimmig. Zuerst hatte Eva Angst, sie würde sich Simon gegenüber verraten, indem sie eine falsche Schublade öffnet oder die Tür zur Abstellkammer mit
der vom Badezimmer verwechselt. Aber jetzt ist sie völlig entspannt, lehnt sich gegen Simon und nippt an ihrem Glas Wein, als wäre es das Normalste auf der Welt. Eine Frau und ein Mann sitzen verliebt auf einem Sofa und trinken Chardonnay.
    »Ja«, wiederholt er. »Ich sagte dir ja, dass ich es eigentlich nicht so steril mag, meine Wohnung in der Hafencity … Na ja, so stelle ich mir ein Zuhause nicht vor.« Auch er nimmt noch einen Schluck. »Hier, bei dir, könnte ich glatt einziehen.« Als sie nichts darauf erwidert - was sollte sie auch sagen? -, stellt er nur schweigend sein Glas ab, fängt an, Evas Rücken zu streicheln. Sie genießt seine Berührung, wünscht sich, es könnte immer so sein. Wünscht sich, er könnte tatsächlich einfach hier einziehen, sie und Simon in diesem Möbelmix - ein ganz normales Leben, wie Leute es führen, die vielleicht nicht die eigene Schwester auf dem Gewissen haben oder das eigene Kind.
    »Darf ich dich etwas fragen?«, bricht Simon das Schweigen.
    »Was denn?«
    »Warum«, er legt eine Hand auf einen der Pulswärmer an ihrem Arm, »trägst du diese komischen Dinger ums Handgelenk und legst sie nie ab? Nicht einmal, wenn wir miteinander schlafen? Hast du«, er zögert kurz, »hast du da vielleicht Narben, die keiner sehen soll?« Schon will Eva sich kerzengerade aufsetzen, aber mit sanftem Druck hält er sie zurück. »Möchtest du es mir nicht sagen?« Einen kurzen Moment überlegt sie, dann schiebt sie die Pulswärmer zur Seite, zeigt ihm,
was sie darunter versteckt. »Du bist tätowiert?« Verwunderung. »Das hätte ich nicht gedacht, passt irgendwie nicht zu dir.« Sie betrachtet die Kreuze, versucht, sie mit Simons Augen zu sehen. Sie versteht, was er meint, so richtig passen Tattoos nicht zu ihr, nicht zu der Eva, die sie nach der Heirat geworden ist.
    »Es ist eine Erinnerung an Marlene«, erklärt sie. »Damit ich sie nicht vergesse.«
    »Könntest du jemals deine eigene Schwester vergessen?«
    »Man kann vieles vergessen.« Sie weiß nicht, weshalb sie das sagt, ausgerechnet sie, die sie doch so verzweifelt versucht hat, alles zu vergessen. Die es sich oft so sehr gewünscht hat. Totale Amnesie, wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich, sich selbst neu erfinden und alles zurücklassen, was einmal war. Er fragt nicht weiter nach, auch nicht, warum es zwei Kreuze sind.
    »Hast du«, will Eva wissen, »schon einmal so große Schmerzen gehabt, dass du einfach irgendetwas unternehmen wolltest, ja musstest, damit sie aufhören? Und sei es nur, sie durch einen anderen Schmerz zu verscheuchen?«
    Simon schüttelt den Kopf. »Nein, ich glaube, das ist mir bisher erspart geblieben.«
    »Dann sei froh.«
    »Hast du jetzt auch Schmerzen?«, fragt er.
    »Nein«, sagt sie. Doch in Wahrheit ist es immer noch da, wird immer da sein, ihr Leben lang, da kann sie sich vom Scheitel bis zur Sohle mit Kreuzen tätowieren lassen, es wird nie vollständig verschwinden. Aber hier,
mit Simon, spürt sie den Schmerz nicht mehr ganz so deutlich.
    »Sie fehlt dir sehr, oder?«
    Eva nickt. Und plötzlich laufen die Tränen.
    »Ist schon gut«, er wiegt sie wie ein Kind in seinen Armen. »Das wollte ich nicht, bitte nicht weinen.« Doch sie kann nicht mehr aufhören, seine Frage hat die Schleuse geöffnet, die so viele Jahre verschlossen war.
    Seit Marlenes Beerdigung hat sie kein einziges Mal mehr richtig und aus vollem Herzen geweint, selbst nicht, als Lukas gestorben ist. Und jetzt entlädt es sich auf einen Schlag, ganz oder gar nicht, so ist sie eben. Ganz oder gar nicht, jetzt will sie ihm alles sagen. Ohnehin ist es nur eine Frage der Zeit, bis er erfährt, dass dies hier nicht ihre Wohnung ist, dass er deshalb mit Sicherheit hier auch nie einziehen wird, dass sie sich vermutlich noch nicht einmal ein zweites Mal in der Wrangelstraße treffen können. Lesungen oder Buchhändlerseminare, zu denen Eva mit Gabriele im Wochenrhythmus fahren müsste, das würde Tobias ihr wohl kaum glauben.
    »Ich

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