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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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sagte doch, dass du ihm nichts erzählen sollst!« Evas Kopf fährt herum zu der Stimme, die rechts von ihr erklingt. Marlene steht kopfschüttelnd im Türrahmen zum Wohnzimmer, mustert ihre Schwester unzufrieden. Mit einer Hand wischt Eva sich die Tränen fort.
    »Was ist los?«, fragt Simon. Er hat ihre hektische Bewegung bemerkt.

    »Nichts«, sagt Eva, wendet den Kopf aber dennoch nicht von ihrer Schwester ab.
    »Du solltest auf mich hören«, spricht Marlene weiter, »ich bin die Einzige, die weiß, was gut für dich ist. Das muss dir doch klar sein!«
    »Eva?« Simons Stimme. »Eva, was hast du denn?« Marlene zieht mahnend die Augenbrauen in die Höhe, dann verlässt sie den Raum.
    »Tut mir leid«, Eva dreht sich wieder zu ihm um, betrachtet sein verwirrtes Gesicht. »Ich dachte, da wäre ein komisches Geräusch gewesen.« Dann also nicht; wenn Marlene es so für richtig hält, wird Eva ihm nichts sagen, Marlene hat ja immer gewusst, was richtig ist und was nicht, und sie wird ihr auch jetzt sagen, was sie tun soll. »Ich habe nichts gehört«, meint Simon.
    »Nein, da war auch nichts«, bestätigt Eva. »Im Gegenteil, es ist ziemlich still hier. Vielleicht sollten wir ein bisschen Musik anmachen.« Sagt es und will es am liebsten sofort wieder zurücknehmen. Nirgends im Zimmer ist eine Anlage, ein Radio oder auch nur ein Fernseher zu entdecken. Mit einem Mal wieder dünnes Eis.
    »Gern«, sagt er. Unsicher steht Eva auf, geht zu dem Regal, in das sie ein paar Bücher aus dem Laden und einige persönliche Dinge gestellt hat. In der Mitte sind zwei verschlossene Türen, sie öffnet sie, die Erleichterung schießt ihr durch die Glieder: Fernseher und Anlage, daneben zwei Stapel CDs. Sie nimmt ein paar davon in die Hand, studiert angestrengt ein Cover nach dem nächsten, aber nichts davon sagt ihr etwas, nicht einmal die Stilrichtung kann sie erahnen. Sie hört sich
selbst nervös kichern, wenn sie jetzt unwissentlich Marschmusik auflegt, wird Simon sich wahrscheinlich wundern.
    »Was ist so lustig?« Er ist unbemerkt hinter sie getreten, legt seine Arme um ihre Taille, küsst sie in den Nacken und sieht ihr über die Schulter dabei zu, wie sie die CDs durchblättert. »Ein ungewöhnlicher Musikgeschmack«, stellt er fest. »Sagt mir alles gar nichts.« Als Nächstes hält sie ein Album von ABBA in der Hand.
    »Das hier auch nicht?«.
    »Doch«, er lacht, »das leider schon, daran kommt man ja nicht vorbei!« Sie lehnt sich gegen seine Brust, schließt die Augen, fängt leise an zu singen. I’m nothing special, in fact I’m a bit of a bore.
    »So wie du es singst, gefällt es mir aber«, sagt Simon. »Marlene hat mir mal erzählt, wie gut du singen kannst.« Dann stockt er. »Sorry, ich wollte nicht schon wieder damit anfangen.« Sie dreht sich zu ihm um, legt ihren Kopf an seine Schulter.
    »Ist schon gut.« Und dann erzählt sie. Erzählt ihm von Marlene und ihr.
     
    Sie sieht sich selbst in ihrem Kinderzimmer stehen, eine Kleiderbürste in der Hand, die als Mikrophon dient; sie singt »Thank you for the music«, begleitet von einem altersschwachen Kassettenrekorder. Neun oder zehn ist Eva, versucht bei ihrem Auftritt ein paar holperige Tanzschritte, Marlene sitzt als Publikum auf ihrem Bett, klatscht begeistert, nachdem die letzten Takte verklungen sind. Plötzlich fliegt die Tür krachend
auf. Ihr Vater springt in den Raum, brüllt sie an, was sie wieder für einen Lärm mache, reißt den Kassettenrekorder aus der Steckdose und donnert ihn auf den Boden. Schon hat er einen Kleiderbügel in der Hand, schnappt sich Eva und holt aus; sie entwischt ihm knapp, rennt los. Raus aus dem Zimmer, die Treppe hinunter zur Haustür, sie hört Marlene, die ihr folgt, dicht hinter sich. »Komm«, ruft sie ihrer Schwester über die Schulter zu, »wenn er uns kriegt, setzt es was.«
    Draußen ist es dunkel und kalt, Eva trägt nur ein Nachthemd, sie zittert, trotzdem bleibt sie nicht stehen, läuft hinüber zur B 73, will auf die andere Straßenseite. In der Ferne sieht sie ein Auto, noch weit genug weg, mit ein paar großen Sätzen überquert sie den Asphalt. Drüben angelangt will sie sich nach ihrer Schwester umdrehen, ein Scheinwerfer blendet sie, sie kommt ins Stolpern, schlägt nur Sekunden später hart mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Und spürt, wie ihr etwas Warmes über das linke Auge läuft.
    »Es war gar nicht der Kleiderbügel«, stellt Eva verwundert fest und tastet mit einer Hand über ihre linke Braue.

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