Allerliebste Schwester
er weiß, wo du steckst.
Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?« Als wäre es je um ihre Meinung gegangen, denkt sie. Also wird Simon seine Mailbox irgendwann abhören, vielleicht hat er es ja bereits getan, doch auch das ist nicht schlimm, es war ohnehin nur noch eine Frage der Zeit, bis er von ihrer Ehe erfahren hätte.
»Gut«, sagt Eva, nimmt das Buch vom Couchtisch und will an Tobias vorbei aus der Küche. »Dann gehe ich jetzt.« Zu Simon will sie, so schnell wie möglich, ihm alles erzählen und darauf hoffen, dass es er ihr die Lüge verzeiht, dass er versteht, dass sie nicht anders konnte.
»Du kannst doch nicht einfach so gehen!« Mehr Entrüstung als Entsetzen. Er stellt sich zwischen sie und die Tür. »Könntest du mir bitte erklären, was …«
»Nein.« Schnell schlängelt sie sich an ihm vorbei, raus in den Flur, mit wenigen Schritten ist sie an der Haustür. Ein Ruck reißt sie zurück, Tobias hält sie am Ärmel ihres Kaschmirpullovers fest.
»Lass mich los!« Ihre Stimme klingt so bestimmt, dass er unwillkürlich von ihr ablässt. Nur für einen kurzen Moment allerdings, dann umfasst er wieder ihr Handgelenk.
»Bitte, Eva, sei doch vernünftig und sprich mit mir. Ich verstehe überhaupt nicht, was los ist. Du kannst doch mit mir über alles reden!« Einen Augenblick lang überlegt sie, ob sie ihm diesen Gefallen tun will.
»Ich war bei einem anderen Mann«, erklärt sie. »Und da werde ich jetzt auch wieder hingehen. Zu Simon, dem Mann mit der Telefonnummer.«
»Nichts wirst du tun«, zischt er zwischen zusammengepressten
Zähnen hindurch, »das lasse ich nicht zu.« Sein Griff wird fester, er zieht sie von der Haustür weg hinter sich her durch den Flur. Eva strampelt und tritt wild um sich, aber ihr Mann ist stärker als sie.
»Jetzt lass mich endlich los!«, schreit sie ein zweites Mal, lässt das Buch fallen, um mit ihrer freien Hand nach ihm zu schlagen. Er weicht ihr geschickt aus, zerrt sie weiter hinter sich her.
»Hier!«, ruft jemand. Eva dreht den Kopf nach hinten. Marlene, da ist sie wieder, steht neben der Haustür und zeigt auf den Schirmständer, in dem der Golfschläger steckt, den sie Tobias zu Weihnachten geschenkt hat. Eva nimmt alle Kraft zusammen, reißt sich von ihrem Mann los, stolpert und stürzt mit einem lauten Krachen zu Boden. In Windeseile rappelt sie sich wieder hoch, schneller, als Tobias reagieren kann, der ebenfalls ins Taumeln geraten ist. Mit einem Satz ist sie am Schirmständer, umfasst den Griff des Schlägers, reißt ihn heraus und hält ihn zitternd als Waffe vor ihren Körper. Tobias hebt beschwichtigend die Hände. »Eva, legt sofort das Ding weg, was soll denn das?« Langsam nähert er sich ihr.
»Wehr dich!«, ruft Marlene ihr zu. »Wehr dich endlich!«
»Ja«, sagt Eva, »das mache ich!«
»Mit wem sprichst du?« Tobias.
»Mit Marlene.«
»Marlene?« Er sieht sich panisch um, als fürchte er sich, seine verstorbene erste Frau könnte tatsächlich wieder aufgetaucht sein. Dann richtet er den Blick erneut
auf Eva. »Liebling, das ist doch Unsinn, Marlene ist tot, sie kann nicht hier sein!«
»Kann sie doch.« Eva holt aus, lässt den Schläger niedersausen, ihr Mann entkommt nur knapp dem schweren Eisen. Wieder ein entsetztes »Eva!«, nun gepaart mit deutlich spürbarer Angst, Tobias stürzt auf die Tür zum Wohnzimmer zu. Eva setzt ihm nach, den Schläger wieder hoch erhoben.
»Ja«, feuert Marlene sie weiter an. »Zeig ihm, dass du nicht mehr alles mit dir machen lässt, dass das vorbei ist. Du musst dich von ihm befreien, das hier ist deine Chance!« Wie ein agent provocateur steht sie nun direkt neben Eva, zwischen den Fronten, schreit ihr Anweisungen ins Ohr. Ich bin die Einzige, die weiß, was gut für dich ist. Und gut fühlt es sich an, mehr als gut, der letzte Rest ihrer Ohnmacht fällt von Eva ab, mit dem Schläger in der Hand gewinnt sie die Kontrolle zurück.
»Hör auf«, keucht Tobias, stützt sich mit einer Hand am Türrahmen zum Wohnzimmer ab. »Du bist nicht bei Sinnen, hör endlich auf damit! Ich tu dir doch nichts.«
»Nein«, stellt sie lächelnd fest, »du tust mir so schnell nichts mehr.« Ein Blick zu Marlene, sie nickt zustimmend. Und dann holt Eva wieder aus, schwingt den Schläger mit voller Kraft, lässt ihn gegen die antike Standuhr im Flur sausen. Krachend splittert das Holz.
»Bist du verrückt geworden?« Nein, verrückt ist sie nicht, noch nie war sie so klar wie in diesem Moment. Marlene
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