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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Sternen und dachte: Dort, dorthin, dies hier ist nicht die einzige Welt, das kann nicht wahr sein, dies kann nicht die einzige Welt sein, das darf nicht sein, dieser Gestank, dieser Tod, diese Kälte, ach, wenn du wissen willst, wie ich mich damals fühlte, dann mußt du dir Veras Bilder noch mal ansehen. Wir sind Zwillinge, wie du weißt, sie ist angeblich die Pessimistin … meine dunkle Seite, die Schattenseite, aber so war es nicht, aus derselben Düsternis heraus, die in diesen Bildern liegt … habe ich angefangen zu studieren, noch immer aus demselben Grund … und ich sage dir, noch nie bin ich so glücklich gewesen wie damals, als der Sputnik um die Erde kreiste, da wußte ich, daß es möglich ist, daß all das geschehen würde … denn daran glaube ich felsenfest, der Raum, das ist unser Auftrag, weg aus diesem kalt gewordenen Scheißhaufen. Kennst du dieses Gefühl nicht? Diese Welt ist zu alt, wir haben sie bis auf den Grund geschröpft, wir sind schamlos mit ihr umgesprungen, sie wird sich rächen. Wir sind krank vor Erinnerungen, alles ist verseucht, ach Zenobia, hör auf, gib dem Mann Tee, aber trotzdem, Arthur, sieh dir doch mal die Schönheit dieser Maschinen an und vergleich das mit all den abgegriffenen … ach, laß gut sein, laß gut sein. Es ist so merkwürdig, manchmal könnte man meinen, daß junge Menschen sich überhaupt nicht dafür interessieren, ich sehe, du lachst mich aus …«
    »Ich lach dich nicht aus. Aber wie lange dauert diese Reise denn für den ersten?«
    »Es sind 466 Millionen Meilen.«
    »Danke!«
    »Dreihundertneun Tage, so um den Dreh.«
    »Und der Mensch muß das tun?«
    »Ich würde morgen gehen. Aber mich wollen sie nicht. Zuviel gegessen.«
    »Aber, Zenobia …?«
    »Sag’s nur. Aber mach dann auch deine Augen zu und spüre , wie sie alle unterwegs sind. JETZT! Der Voyager, der Pathfinder … demnächst der Surveyor …«
    »Alle auf dem Weg zu diesen kahlen Steinkugeln. Nur, weil es sie da oben gibt?«
    »Du Kleingläubiger. Es muß sein, weil es sein muß. Deine Kinder werden es noch erleben …«
    »Ich habe keine Kinder.«
    »O. Glupaja devka. Verzeih bitte.«
    »Da gibt es nichts zu verzeihen. Ich hätte es nicht zu sagen brauchen. Zeig mir, weswegen du mich angerufen hast.«
    »Ah«, ihr Gesicht strahlte wieder. »Auch ein bißchen Mars, aber mit Wasser.«
    Sie brachte ihm eine Mappe mit Fotos zwischen Seidenpapier.
    »Alles vintage prints. Setz dich da an den Tisch. Diese beiden sind von Wols.«
    Er entfernte vorsichtig das hauchdünne Papier von dem Foto. Auf dem Passepartout stand mit Bleistift: »Wols, Ohne Titel (Wasser).« Aber war das Wasser? Diese erstarrte, lavaartige Masse, schwarz, grau, mit glänzenden Lichtflecken, mit Furchen und Aushöhlungen, eine fast polierte, fettige Fläche, glänzend und dann wieder körnig. So hatte sich dieses Wasser irgendwann und irgendwo bewegt. Er wollte mit den Fingern darüberstreichen, hielt sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. Das war es, was er anstrebte. Die anonyme, nicht geschaffene, nicht benannte Welt der Erscheinungen, die diese andere Welt, die der Namen, der Ereignisse, aufwiegen müßte. Ich möchte die Dinge bewahren, die niemand sieht, die niemand beachtet, ich will das Allergewöhnlichste vor dem Verschwinden bewahren.
    »Was ist, Arthur, du schaust ja gar nicht.«
    »Ich sehe zuviel.«
    »Dann sieh dir doch auch mal die hier an. Sie sind von Alfred Ehrhardt. ›Das Watt‹ heißt die Serie.«
    Was er hier sah, war Chaos und zugleich Struktur, es gab Ungereimtheiten, Linien, die plötzlich abbogen, sich bizarr teilten und wieder zu sich zurückkehrten. Doch Chaos und Struktur wollte er nicht sagen. Das klang abscheulich.
    »Ich wüßte gern, wie er das gemacht hat. Bei einigen dieser Bilder hat man den Eindruck, als ob er senkrecht darüber schwebt, aber das ist fast nicht möglich. Wie er das Licht einsetzt, unglaublich … aber …«
    »Ja?«
    Es war das ewige Problem. Etwas in der Natur, etwas, das nicht bewußt so gemacht worden war, strahlte eine große, unbeabsichtigte Schönheit aus. Aber wessen Schönheit ist es nun? Die der Natur, die sie ohne jede Absicht hinlegt, wie sie es schon seit Jahrmillionen getan hat, bevor es Menschen gab, die das bemerkten, oder die des Fotografen, der das, was er sah, als ästhetisch oder dramatisch empfunden und dann so gut wie möglich wiedergegeben hat? Er hatte einen nicht zufälligen Ausschnitt aus einer an sich beliebigen Wirklichkeit gemacht.
    »Es

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