Allerseelen
Nein, wir können nicht sagen, ob das gelingt, und genausowenig, ob im Jahr 2012 jemand auf dem Mars landet. Wenn ihr dann noch am Leben seid, werdet ihr es schon selbst merken. Worum es jetzt geht, ist die räumliche Darstellung der Linien, die zwischen den Personen bestehen und dem, womit sie sich beschäftigten, sowie zwischen den Personen untereinander. Arthur schläft, allem entrückt, Victor dagegen sitzt in seinem Atelier und starrt auf das Fossil eines Knochenstücks, das mindestens hundert Millionen Jahre alt ist. Gleichwie du nicht weißt, welchen Weg der Wind nimmt. Das Gebein und das Nichtwissen, das Rätsel, das sein nächstes Werk bestimmt. Er wird sich nicht dazu äußern und sitzt ganz still. Er möchte, daß das Rätsel in dem, was er machen wird, sichtbar wird. Und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war. Wir sehen es, die hauchdünnen Linien des als Geisel genommenen Polybius an seinem Arbeitstisch zu Arno, zu Zenobia zum ersten Fußabdruck auf dem Mars, zum Feldzug Urracas zu Elik, zu dem Jahr, in dem dieser Knochen lebte, zu Victor zum Prediger Salomo zu Arthurs bilderloser Abwesenheit. Wir sind es, die das alles beisammenhalten müssen. Eure Fähigkeit, in der Zeit zu existieren, ist gering, eure Fähigkeit, in der Zeit zu denken, unerschöpflich, Lichtjahre, Menschenjahre, Polybius, Urraca, die Surveyor-Sonde, ein Knochen aus der Vorgeschichte, Linien, eine vierdimensionale räumliche Figur, so sind diese fünf miteinander verbunden, ein Sternbild, das sich wieder auflösen wird, jetzt freilich noch nicht. Viel werdet ihr nicht mehr von uns hören, noch einige Sätze und dann noch ein paar Worte. Vier, um genau zu sein.
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Beim Aufwachen hatte er gehört, daß sich der Sturm gelegt hatte, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, ein Geräusch, das nur geniale Schlagzeuger zustande bringen, jeder Zweig der Kastanie wurde kurz angetippt, der letzte Windstoß schien senkrecht, aber langsam, nach unten zu fallen, noch ein letztes Grabbeln in den toten Blättern auf dem Innenhof, Geraschel, Geflüster, ein letztes Wort, Stille. Kurz darauf das erste leise Ticken richtigen Regens, man konnte die Tropfen zählen.
Es gab so viel zu denken, daß er gar nicht erst damit anfangen wollte – Beeilung, aufstehen, rasieren, Kaffee, nach draußen. Zuerst filmen. Weltmeisterin im Abschiednehmen. Wie filmt man Abschied? Die Blätter unten. Aber Blätter fallen nicht aus eigener Kraft, sie müssen loslassen, sie werden gefallen. Nein, anders, Bewegung, die etwas verläßt. Wer Abschied nimmt, ist immer im Vorteil. Der andere ist es, der zurückbleibt. Er greift zu seiner Kamera und seiner Nagra, diesmal will er einen optimalen Ton, Windschutz, Angel, Kopfhörer. Bei dem, was er vorhat, brauchen Bild- und Tonaufnahme nicht synchron zu sein. Als sein eigener Lastesel trottet er die Treppe hinunter. Zu viel, zu schwer, wie immer. Quichotte, murmelt er sich selbst zu, etwas Besseres fällt ihm nicht ein. Er hat alles in Plastik eingepackt, weil es stärker zu regnen begonnen hat. Abschied, Räder, das Geräusch von Reifen auf nassem Asphalt. Stoßzeit, das paßt gut. Über die Wilmersdorfer geht er zur Kantstraße, dann zum Lietzenseepark. Dort ist jetzt niemand. Vom Park aus, der etwas tiefer liegt, kann er die endlosen Reihen von Rädern aufnehmen – nur das. Kein Fabrikat darf zu erkennen sein, was er will, ist die Dynamik der Bewegung, das Drehen und Spritzen, der matschige Nebel um all die sich drehenden Kreise, er weiß genau, wie das aussehen wird, fahlgrau, bedrohlich, die großen Räder von Bussen und Lastwagen, die schnelleren von Personenwagen, der erzwungene Stillstand, das Ineinanderdrängen, Sich-wieder-Bewegen, Beschleunigen, Verfolgen. Erst als er genug hat, macht er die Tonaufnahmen, vom Gehweg aus versucht er, sein Sennheiser so nah wie möglich an die Räder zu halten, im Kopfhörer hört er das schmatzende, schluckende Geräusch, Tausende von Gummireifen fahren mitten durch seinen Kopf, jetzt ist es keine Frau mehr, die zum zweitenmal so plötzlich gegangen ist, sondern Gummi auf Asphalt, das unverständliche maschinelle Flüstern, eine Warnung, auf die er nicht hören wird. Erst als er durch und durch naß ist, geht er nach Hause. Ein paar Stunden später klingelt er bei Zenobia.
»Wer? Was?« Ihre Stimme donnert aus dem kleinen Apparat in der Bleibtreustraße.
»Arthur.«
»Ah, der kleine Däumling!«
»Ja! Solange ich dich nicht
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