Allerseelen
Schuld.«
Mit wem sprach sie da eigentlich? Wäre es nicht viel besser, wenn sie sich einfach an ihre Königin hielt? Geduldig Urkunden, Folianten, Quellen studierte, ihren eigenen kleinen Garten bebaute? Denn soviel war ihr schon jetzt klar: Das begrenzte Gebiet, das sie sich ausgesucht hatte, wurde mit jedem Tag größer, hinter allem, in das sie vordrang, tauchte etwas anderes auf: Dissertationen über päpstliche Gesandtschaften nach Santiago, über Bündnisse mit muslimischen Königreichen, über den Einfluß der Benediktiner. Welchen Stellenwert hatte dieses so labyrinthisch verzweigte Netzwerk, von dem man so viel und gleichzeitig so wenig wußte, welche Funktion hatte diese ganze minimalistische, ach so geduldige Sucherei neben den großen, mitreißenden Theorien, die soviel mehr Beachtung fanden? War es das – jahrelange Arbeit, um ein paar Brösel für den großen apotheotischen Augenblick beizusteuern?
Sie stand auf und streckte sich. Jetzt hörte sie wieder den Wind, das Rufen und Flüstern. Dieses Gefühl, allein zu sein, konnte sie keinem erklären. Das Gefühl völliger Autonomie, der Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Umgebung, eingebettet in eine selbstgeschaffene Stille, die reglos, durchdringend, heilsam war.
In Amsterdam saßen ganze Völkerscharen ständig in der Kneipe, sie fragte sich, wann irgend jemand überhaupt noch etwas las außer den immer dickeren und immer unerfreulicheren Zeitungen. Vielleicht empfand man es hier nicht so stark, weil Berlin soviel größer war, weil man hier anonym sein konnte, wohingegen sie zu Hause oft den Eindruck hatte, eine große Verkindlichung habe eingesetzt, eine fatale, unerträgliche Oberflächlichkeit bei Menschen, die ihre Individualität dadurch beweisen zu wollen schienen, daß sie en masse über dieselben Witze lachten, dieselben Kryptogramme lösten, dieselben Bücher kauften und meist nicht lasen, eine derart unangenehme Selbstgefälligkeit, daß einem fast schlecht wurde. Alle ihre Freundinnen betrieben Yoga, fuhren im Urlaub nach Indonesien, machten Shiatsu, jeder schien sich mit hunderterlei Dingen zu beschäftigen, die man nur außer Haus betreiben konnte, fast niemand hielt es mit sich selbst aus.
»Jetzt mach aber mal halblang!«
Wer würde das zu ihr sagen, wenn nicht sie selbst? Sie ging zu dem gesprungenen Spiegel und betrachtete sich. Nein, lieber nicht. Was hatten diese Augen ihr zu sagen? Die waren nicht von ihrer Mutter, diese Augen. Vom Vater. Zwei schwarze Kohlen, der Beitrag eines Unbekannten. Einmal war sie nach Melilla gefahren und dort zwei Tage lang herumgelaufen. Ein schrecklicher Ort. Spanien und nicht Spanien, Marokko und nicht Marokko, Islam und nicht Islam. Sie hatte die Männer da angesehen und gedacht, daß sie keinen von ihnen als Vater wollte. Ihre Augen hatte sie zu Tausenden wiedergesehen, aber sie hatten nicht so geschaut, wie man eine Tochter ansieht. Eine Tochter. Vorsichtig bewegte sie ihre Hand auf die Narbe zu, berührte sie sanft. Das tat sie sonst nie. Als würde sie zur Ordnung gerufen, erstarrte nun plötzlich ihr ganzer Körper. Hatte sie das selbst getan? Sie spürte, wie sie da stand, steif wie eine Puppe. Sogar ihre Augen hatten nun einen anderen Ausdruck. Es war deutlich, daß irgend etwas nicht sein durfte.
*
* *
Wir wieder. Immer nachts, so scheint es. Der Chor bei Sophokles hat eine Meinung. Wir nicht. Der Chor bei Heinrich V. bittet um ein Urteil. Tun wir auch nicht. Wir suchen uns die Nacht aus, weil ihr euch dann nicht rührt. Es ist die Zeit der Gedanken, des Resümierens oder einfach des Schlafs, bei dem ihr am ehesten Toten gleicht und es doch nicht seid. Jetzt sind alle dort, wo sie hingehören. Arno liest Frühgeschichte, das kommt durch Elik. Polybius, um genau zu sein. Er wundert sich über die Schärfe, den wissenschaftlichen Ton, er merkt, daß er sich wie ein Zeitgenosse des Schriftstellers fühlt. Er hört den Sturm draußen und liest von Kulturen, die einander verzehren, ineinander übergehen. Vor zweitausend Jahren dachte jemand, Geschichte sei eine fundamentale, organische Einheit. Der Mann in Berlin legt sein Buch hin und weiß nicht, ob er diese Ansicht teilt. Dann liest er wieder, bis die Nacht ihn einholt. Zenobia besitzt weniger Ausdauer, sie ist über einem Artikel eingeschlafen, den sie über die Surveyor-Sonde schreiben soll, die am zwölften September dieses Jahres 309 Tage dafür gebraucht haben wird, um die 466 Millionen Meilen bis zum Mars zurückzulegen.
Weitere Kostenlose Bücher