Allerseelen
das als Lesen bezeichnen konnte, hätte er gern gewußt, was sie jetzt las. Sie lachte.
»Mathematiker sind ein kleines bißchen wie Geister«, sagte sie, »sie schweben im luftleeren Raum und schreiben sich gegenseitig Briefe in dieser Sprache. Es ist eine Welt, die es gibt und nicht gibt, und du kannst da nicht filmen. Geh du nur nach Rußland und vergiß nicht, was ich dir über die Sirenen gesagt habe.«
»Ich versprech’s dir.«
Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie sprach, konnte darüber aber jetzt nicht nachdenken. Plötzlich war er sicher, daß er noch rechtzeitig dasein würde, wenn er sich jetzt beeilte. Sie würde da, über ihre Bücher gebeugt, sitzen, an demselben Tisch, an dem sie das erste Mal gesessen hatte. Atemlos traf er im Lesesaal ein, doch an ihrem Platz saß ein Mann mit einem so indianischen Gesicht, daß er dachte, er werde bis zum Eingang des Saales zurückgeschleudert. Erst als er durch alle Säle und Flure gegangen war, wußte er, daß sie nicht da war. Jetzt begann, so wußte er, die Ungehörigkeit, jetzt mußte er auch noch ins »Einstein«, und dort würde sie auch nicht sein. Dies gehörte zu einem früheren Teil seines Lebens, als man an den Häusern von Mädchen vorbeiradelte und Angst hatte, sie würden einen sehen. Er machte kehrt wie ein Soldat bei einer Parade. Von weitem näherte sich ein Taxi, ein Zeichen. Als der Mann ihn fragte, wo er hinwolle, wurde ihm bewußt, daß er darüber noch nicht nachgedacht hatte. Soldaten, Parade. Also das.
»Zur Wache«, sagte er.
Dort hatte er einmal die atemberaubenden Stiefel der Soldaten bei der Wachablösung gefilmt. Wie ein großes Tier hatten sich die Männer bewegt, wobei die Eisen unter ihren Sohlen über den Asphalt schlenzten. Früher hatte dort eine Ewige Flamme für die Opfer des Faschismus gebrannt. Jetzt stand eine Skulptur von Käthe Kollwitz da, eine Pietà, die leidende Mutter mit ihrem gefallenen Sohn, der soviel gelitten hatte, über den Knien, zwei Arten von Leid, die sich ineinander verschlangen. Er stieg aus. Weg waren die Männer, in Luft aufgelöst. Nie wieder dieser gräßliche Marschschritt, bei dem sie ihre Stiefelspitzen bis zur Höhe ihres Koppels hatten hochschnellen lassen. Er erinnerte sich an die begierigen Blicke der Umstehenden und wußte noch, daß er sich gefragt hatte, worin nun eigentlich der Genuß lag. In der mechanischen, absoluten Perfektion, durch die Menschen, jeglicher Form von Individualität beraubt, zu Maschinen reduziert wurden? Es war unvorstellbar, daß einer dieser Roboter je eine Frau streichelte, und dennoch hatte das Ganze etwas Geiles, womöglich weil die Stiefel und Helme den Gedanken an Tod und Vernichtung wachriefen. Er ging zum Palast der Republik, wo er gesehen hatte, wie Egon Krenz ausgebuht wurde, ein Mann, der langsam unterging in der steigenden Flut. Binnen Jahresfrist hatten die Paraphernalien der früheren Herrscher in den Vitrinen des Museums gegenüber gelegen, Grotewohls Brille, Ulbrichts Orden, und am Eingang ein übermannshohes Lenin-Standbild, wie aus Zink gemacht, Hände in den Taschen, herausfordernder Blick, als hätte er die riesige Rakete über ihm mit eigener Hand gebaut, Bilder aus einer Vergangenheit, der nie die Zeit gegeben worden war, wirklich alt zu werden, die ungehörig schnell durch eine vernichtende Lächerlichkeit schimmlig geworden war. Aber den Gesichtern der Besucher war natürlich wieder nichts anzusehen gewesen, damals nicht und heute auch nicht. Das war das Paradoxe daran, jeder war selber Geschichte, und niemand schien dazu stehen zu wollen.
*
Und dann? Dann nichts. Er hatte beschlossen, sie nicht mehr zu suchen, und hatte gewartet. Am Ende des vierten Tages hatte er etwas wie Kratzen, ein leises Scharren an seiner Tür gehört. Er hatte geöffnet, und sie war wie eine Katze ins Zimmer geglitten. Als er sich umdrehte, saß sie bereits und sah ihm genau ins Gesicht. Er hatte ihr nicht erzählt, daß er sie gesucht hatte, er hatte nichts gefragt, und sie hatte nichts gesagt. Sie nannte ihn nie bei seinem Namen, und er tat es auch nicht, als wäre ein Verbot erlassen worden. Sie hatte sich wie beim vorigen Mal schweigend ausgezogen, danach hatte er, fragend, etwas über Pille oder Kondom gesagt, und sie hatte das beiseite geschoben und geantwortet, das sei nicht nötig. »Du hast kein Aids, und ich habe kein Aids, und Kinder kann ich nicht kriegen.«
Als er dann doch noch gefragt hatte, woher sie das so genau wisse, hatte sie
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