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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Dornröschen oder Schneewittchen nennen muß!«
    »Untersteh dich! Diese Fleischmassen habe ich mir nicht umsonst zugelegt!«
    Sie steht oben in der offenen Tür.
    »Und ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr. Was höre ich da von Arno? Sie ist hübsch, sagt er?«
    Die Frage hat er sich noch nicht gestellt. Er denkt an ihr Haar, hauchfeines Eisengewebe. Die Hand, die er darauf gelegt hatte, war zurückgefedert, man spürte keinen Schädel. Ein gewobener Helm.
    »Du weißt es nicht?«
    »Nein.«
    »Dann ist sie was ganz Besonderes.«
    »Darf ich jetzt rein?«
    Drinnen war es hoch und kühl. Die elementarsten Möbel, alle aus Holz. Wände weiß, ohne Schmuck.
    »An den Wänden darf man nichts haben. Von Zeit zu Zeit sollte man etwas auf ein Lesepult legen und es sich lange anschauen.«
    Das Lesepult stand frei, etwa drei Meter von dem großen Fayencekachelofen entfernt, der nicht mehr in Betrieb war.
    »Mein persönlicher Götze. Gefällt er dir?«
    »Mich interessiert das da mehr.«
    Auf dem Lesepult lag ein Foto vom Planeten Mars.
    »Sag mal was Intelligentes. Was siehst du?«
    Er schaute. Unebenheiten, Flecke, Spuren, helle und dunklere Flecke. Rätselhaft, aber was konnte man dazu sagen?
    »Schrift?«
    »Nicht schlecht. Aber dann eine Geheimschrift. Oh, ich kann’s gar nicht mehr erwarten!«
    »Was?«
    Sie war aufrichtig schockiert.
    »Arthur! Wir sind unterwegs! Während du und ich uns hier unterhalten, ist diese einsame Maschine auf dem Weg dorthin!«
    Sie drückte einen Finger mitten in die beängstigende Dürre des Planeten.
    »Wenn alles gut geht, ach, wunderbar ist das, eine Landung mit Ballons und dann ein winzig kleines Wägelchen, ein Spielzeug, das da rumfahren wird, Arthur, richtig fahren wird, wrumm, wrumm, so klein, hier, schau mal« – sie zeigte mit den Händen eine Distanz an, wie umgekehrtes Anglerlatein –, »so klein! Und es wird uns alles über die Geheimschrift erzählen. Hier!« Sie drückte ihm eine Reihe von Computerausdrucken in die Hand. Er verstand kein Wort.
    »Begin Traverse operations. APX5 measurement.«
    »Was bedeutet APX5?«
    »Alpha Proton X-ray. Mögliche Programme. Für den Fall, daß es klappt. Um den Boden zu untersuchen.«
    Den Boden, das klang lächerlich.
    »Klappt es denn?«
    »Auf jeden Fall! Am 5. Juli fährt es da rum und schickt seine Fotos zur Erde. Von den Steinen, den Felsen, der Zusammensetzung, schau …«, und sie zog ein Foto einer ausgestorbenen Landschaft mit ein paar einzelnen Steinen aus der Schublade. Ein bleiernes Licht schien dort zu herrschen, es radierte die Steinbrocken mit einem Schlagschatten, wodurch die Einsamkeit noch gesteigert wurde.
    »Ist das der Mars?«
    »Nein, du Dummchen, das ist doch noch nicht möglich. Das ist der Mond, aber vielleicht sieht der Mars auch so aus. Bäume wachsen auf beiden nicht.«
    »Einsam sieht’s da aus. Guter Ort für eine Bushaltestelle.«
    »Kommt noch.«
    »Wie meinst du das? Fliegen wir dort etwa auch hin?«
    »Natürlich. Wir werden dort wohnen! In fünfzehn Jahren oder so läuft der erste Mensch auf dem Mars herum. Bis dahin gibt es alle sechsundzwanzig Monate die Möglichkeit, eine Mission dorthin zu entsenden. Das hängt damit zusammen, wie die Umlaufbahn des Mars zu unserer liegt. Dies kleine Ding kann nicht mehr zurückkehren, aber in ungefähr acht Jahren bekommen wir die ersten Steine. Schau, das ist mein Autochen …«
    Sie zeigte ihm ein Foto von einer Art Spielzeugauto.
    »Eine Frau hat das entworfen! Möchtest du einen Tee? Russischen Tee? Schmeckt nach Pulverdampf.«
    »Gern.« Er setzte sich.
    »Russischer Tee, russische Begeisterung , wunderbares Wort. Manchmal ist Deutsch sehr schön. Voller Geister. Du denkst, was will die Alte mit diesem Auto …«
    »Nein, Quatsch. Denke ich überhaupt nicht.«
    »Hör zu, Spaß beiseite, ja? Nicht sentimental. Aber als ich ein kleines Kind war, damals in Leningrad, in diesem schrecklichen Winter mit all den Toten überall, und dazu dieser unvorstellbare, unvorstellbare Hunger … da sind zwei Dinge bei mir passiert. Das erste war, daß ich dachte, wenn es jemals wieder möglich ist, dann höre ich nicht mehr auf zu essen … du mußt zugeben, das ist mir gelungen –, aber das andere war: Ich will weg aus dieser Welt, ich will hier weg, ich schwör’s dir, das dachte ich, so klein wie ich war. Ich will hier nicht mehr sein, dachte ich, und dann, in einer dieser Winternächte, alles war dunkel, wir hatten kein Licht, da schaute ich zu den

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