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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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geantwortet: »Weil ich keine will.« Darüber hätte er gern mit ihr gesprochen, aber wieder hatte sie sich in voller Länge auf ihn gelegt, und als er versuchte, sie hinunterzubugsieren, sie sanft auf die Seite zu schieben, sie zu streicheln, hatte sie sich gewehrt, als hätte sie sich eingegraben, und nein, nein, NEIN gemurmelt, und ihm war klargeworden, daß, sollte er es nicht so belassen, sie gehen würde, und wieder war alles wie beim ersten Mal, nur hatte er sich diesmal hineinsinken lassen, ein doppeltes Feuer, gefolgt von dem gleichen abrupten, schweigenden Abschied, jemand, der sich etwas geholt hat, bekommen hat, was er wollte, wieder verschwindet und in den darauffolgenden Wochen das gleiche tun würde. Was er von sich selbst halten sollte, wußte er da schon lange nicht mehr.
    Auf Ernas Fragen hatte er nicht recht zu antworten gewußt.
    »Vertrauen futsch?«
    »Nein.«
    »Aber du bist sprachlos. Im wahrsten Sinne des Wortes, meine ich. Wir haben uns immer alles erzählt. Ich bin nicht neugierig. Ich will nur wissen, wie es dir geht. Du hörst dich komisch an. Irgendwas ist doch. Arthur?«
    »Ja?«
    »Gestern war der 18. März.«
    Der 18. März war der Tag des Flugzeugunglücks.
    »Und ich habe zum erstenmal nicht angerufen. Mußte das deiner Meinung nach nicht mal passieren?«
    »Ja, aber trotzdem.«
    Das war unter der Gürtellinie. Er befand sich auf einmal wieder zu dritt in seinem Zimmer. Aber die anderen sagten nichts. Sie waren so weit weg wie nie zuvor. Es mußte mit ihrem Alter zusammenhängen. Sie konnten es nicht ertragen, nie älter zu werden.
    »Häng da nicht länger rum. Diese Stadt tut dir nicht gut. Du mußt wieder was machen.«
    »Ich mache alles mögliche.«
    »Etwas Richtiges.«
    »Ich geh für den BRT nach Estland. Die Niederländer wollten mich für Rußland haben, die Flamen für Estland. Da gibt es auch Russen. Ist das richtig genug?« Als er aufgelegt hatte, blieb er eine Zeitlang still sitzen. Wie sollte man jemandem, der einem seine Adresse nicht geben wollte und der nie etwas fragte, Bescheid sagen, daß man für ungefähr eine Woche wegfuhr? Also nicht Bescheid sagen. Er konnte schwerlich einen Zettel an seine Tür kleben. Einmal hatte er gefragt, warum er nicht wissen durfte, wo sie wohnte.
    »Es gibt keinen anderen Mann, falls du das denken solltest.«
    Diese Möglichkeit war ihm verrückterweise noch gar nicht in den Sinn gekommen. Er sagte das.
    »Dann denkst du es um so mehr. Eine ungefragte Leugnung ist eine Bestätigung. Freud.«
    »Davon weiß ich nichts. Was ich weiß, ist, daß du kommst, wann du willst, und daß du gehst, wann du willst … daß wir kaum je miteinander gesprochen haben, ein einziges Mal auf der Pfaueninsel, einmal in Lübars …«
    Den Rest behielt er für sich.
    »Ich ertrage keine Ansprüche.«
    Sie hatte einen Schritt zurück getan und dabei abwehrend den Arm erhoben. So waren sie eine Weile stehengeblieben. Sie war, dachte er, die ganze Zeit kurz davor, etwas zu sagen, aber es kam nicht. Schließlich hatte sie sich umgedreht und gesagt: »Wenn du meinst, daß ich nicht mehr kommen soll … Ich … ich bin ein Mensch, der allein ist, der …«
    »Jetzt nicht. Jetzt bist du nicht allein.« Er hatte sie in die Arme nehmen wollen, und es war keine Rede davon, daß das möglich gewesen wäre. Einsamkeit, Verbitterung, es jagte ihm Angst ein. Jemand, der sich in sich selbst einschließen konnte. Panzer, Abwesenheit.
    »Du darfst von mir nichts erwarten.« Das hatte sie dann doch noch gesagt.
    »Kehren Sie um.« Das war Victor. Er hatte ihm nichts erzählt, und trotzdem hatte der Freund das gesagt. Kehren Sie um. Doch wie stellte man das an? Bei gefährlichen Aufträgen hatte er das erlebt. Unbemerkt war man zu weit gegangen, und mit einemmal war die Gefahr überall. Dann gab es nur noch Panik, bis es wieder mal gut ausgegangen war. Wie das hier ausgehen würde, wußte er nicht.
    *
    Auf der Fähre nach Tallinn waren die Finnen bereits vor dem Auslaufen aus dem Hafen von Helsinki betrunken. Steif vor Kälte stand er an Deck und filmte die strudelnde Spur, die das Schiff hinter sich ließ.
    »Deine Finger frieren noch an der Kamera fest«, hatte der flämische Regisseur gerufen und war dann wieder hineingegangen. Arthur kannte Hugo Opsomer schon seit Jahren, eine Freundschaft, die nicht vieler Worte bedurfte. Er wußte, daß Hugo seine Dokumentarfilme bewunderte, und wußte es zu schätzen, daß der andere nie gefragt hatte, warum er bereit war, als

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