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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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hat etwas mit Autonomie zu tun. Er hat es ausgewählt und kommt trotzdem nicht daran heran. Er eignet sich diese Landschaft, diesen Teil der Landschaft an, kann aber im Grunde nicht dorthin vordringen, und seine Kunst besteht darin, genau das zu zeigen. Es bleibt sich selbst, und er hat es bewahrt. Es ist schon hunderttausendmal vom Meer weggewischt worden, und wenn ich morgen hingehe, finde ich es wieder, mit einer winzigkleinen Nuance Unterschied …«
    Zenobia nickte.
    »Und ist das alles?«
    »Nein, natürlich ist das nicht alles. Jetzt kommen du und ich. Aber was wir auch tun, ob du dieses Foto nun vergrößerst, hier aufhängst, es bleibt etwas, was jemand am 21. Januar 1921 irgendwo in irgendeinem Watt vorgefunden und fotografiert hat. Daran ist nichts zu ändern.«
    Zenobia legte ihre Hand auf seinen Kopf.
    »Ich spüre, wie es hier gärt. Große Ereignisse?«
    »Vielleicht auch das Gegenteil.«
    Er mußte dieses Gespräch beenden. Ein Körper, der sich des deinen bemächtigt hat, der sich auf deinem ausgetobt hat, fast so, als wärest du selbst nicht dabeigewesen, wie sollte man so etwas nennen? Es hatte zwar einen Namen, aber in dem Augenblick war es mehr Natur als Name gewesen, der Rausch hatte es anonym gemacht. War das möglich, oder war es genau das, worum es ging? Er spürte eine Welle überwältigender Zärtlichkeit in sich hochkommen und erhob sich. »Was kosten die?« Er zeigte auf die Fotos. »Oder, besser gesagt, was kostet eines dieser Fotos? Mehr kann ich mir ja doch nicht leisten.«
    Er sah den verletzlichen weißen Körper. Wie sollte man den je vor dem Verschwinden behüten können?
    »Red keinen Quatsch. Such dir lieber eins aus.«
    »Zu schwierig. Dann muß ich sie mir länger anschauen. Ich komme wieder.«
    Er wollte in die Bibliothek.
    »Man will mich für eine Reportage in Rußland«, sagte er.
    »Oh, großartig. Jedem zeigen, was für ein Saustall bei uns herrscht?«
    »Ich denke, schon. Ich bin nur der Kameramann.«
    »Nur zu, es gibt ja doch niemanden, der uns versteht.«
    Stille.
    »Arthur?«
    »Ja?«
    »Du mußt dich jetzt nicht entscheiden. Du bekommst eins, das ich schön finde, aber nicht jetzt. Ich spüre, daß du weg willst. Geh du nur zu deinem geheimen Ziel, ich gehe zurück zum Mars. Oder zum Saturn, denn da fliegen wir auch hin. Vielleicht kann ich mich dafür anmelden. Es wird ein ganz hübsches, kleines Raumfahrtdöschen, gerade groß genug für mich. Es ist nach einem Landsmann von dir benannt, Huygens.«
    »Wann geht’s los?«
    »Am 15. Oktober. Ankunft 2004. Ein Klacks. Wir fliegen mit der Cassini, die läßt mich mit der Huygens auf dem Titan raus und schwebt dann noch ein paar Jahre um den Saturn herum. Noch neun Monate, ich kann’s kaum erwarten.«
    »Ach, hör doch auf.«
    »Wenn du mit Russen umgehen willst, mußt du Gefühle ertragen können. Der Saturn ist wunderbar, viel schöner als der Mars, der ist eine einzige Eiswüste. Die Erde paßt siebenhundertfünfzigmal in ihn hinein, dort gibt’s nur herrlich leichte Gase, und wenn es einen Ozean gäbe, der groß genug wäre, dann könnte der Saturn darin schwimmen. Kennst du das nicht, dieses Gefühl, daß du dich am liebsten in irgend etwas völlig auflösen, darin verschwinden würdest? Das ist das Wunderbare an Zahlen, niemand weiß, wie verführerisch all diese Nullen sind.«
    »Ich dachte, das läßt Wissenschaftler kalt?«
    »Wissenschaftler sind entweder Rechenmaschinen oder Mystiker. Du hast die Wahl. Ich bin nur eine gescheiterte Wissenschaftlerin. Ich stehe ganz am Rand und schreibe dumme kleine Artikel.«
    »Dann entscheide ich mich für sentimentale russische mystische Rechenmaschinen. Und jetzt muß ich gehen.«
    Er wollte nach seinem Mantel greifen und blieb vor ihrem Computer stehen. Auf dem blauen Monitor stand eine mathematische Formel, die den ganzen Bildschirm mit Geheimsprache füllte.
    »Was ist das?«
    »Ein Gedicht.«
    Er beugte sich vor. Wenn das ein Gedicht war, dann gab es einer Wirklichkeit Ausdruck, die weit außerhalb von ihm existierte, eine Welt von einer beängstigenden Reinheit, die einen ausschloß.
    »Und worin besteht der Unterschied zu einem richtigen Gedicht?«
    »Daß es nicht mit Kummer oder Liebe oder Schlamm geschrieben ist, wie richtige Gedichte. Es gibt keine Sprache und folglich auch keine Gefühle. Und es ist gefährlicher, so schön es auch aussieht. Ebendiese Reinheit wurde schon für die schrecklichsten Erfindungen benutzt.«
    Sie sah sich die Formel an. Falls man

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