Allerseelen
Nacional in Madrid … und dann gibt es noch die arabischen Quellen, da mußt du dann wieder einen Arabisten zu Rate ziehen. Meine Betreuung wird dir, wie du siehst, nicht viel bringen, ich werde auch andere hinzuziehen müssen, um mir auf die Sprünge zu helfen, in Leuven sitzt jemand, der bedeutend mehr darüber weiß, ich habe dir von Anfang an gesagt, daß das nicht mein Fachgebiet ist, und allzuviel Zeit kann ich auch nicht darauf verwenden, ich habe schließlich noch mein eigenes Buch … Trotzdem habe ich dich daran arbeiten lassen, weil du es unbedingt wolltest. Aber eines Tages hockst du vor einem gigantischen Berg Papier und fragst dich, was du da eigentlich machst, welche Relevanz das eigentlich hat … Mommsen« – sie wußte, was jetzt kam, es war sein Lieblingszitat –, »hat gesagt, ›Wer Geschichte schreibt, hat die Pflicht politischer Pädagogik‹, und davon sehe ich hier wirklich nichts. Was bedeutet es für andere, das meine ich. Wenn du so weit in der Zeit zurückgehst, mußt du dir dabei ständig vor Augen halten, daß sogar die einfachsten Dinge in gewisser Weise nicht stimmen. Zum Beispiel, eine Straße ist keine Straße, eine Entfernung keine Entfernung. Bei Straße denkst du an etwas, was du hier draußen siehst, bei Entfernung stellst du dir eine Zeitdauer vor, die völlig unrealistisch ist … Ich nenn dir jetzt nur ein Beispiel, damit du siehst, was ich meine: Ende 1118 schickt Papst Gelasius einen neuen päpstlichen Gesandten nach Spanien, Kardinal Dieudedit, wunderbarer Name. Aber ist dir auch klar, wie lange er dafür braucht? Er soll die Bischöfe Iberiens zu einem Konzil in der Auvergne einladen und gleichzeitig alles versuchen, damit der brüchige Waffenstillstand zwischen Alfonso und Urraca, das heißt zwischen Aragón und Kastilien, nicht platzt, damit Alfonso die Hände frei hat, um Zaragoza von den Muslimen zurückzuerobern. Aber er hat auch noch eine Botschaft für Gelmirez, den Bischof von Santiago und Verbündeten Urracas. Der wollte auch zu diesem Konzil, braucht dafür aber einen Geleitbrief von Alfonso, den er nicht bekommt. Das erfährt er in … äh …«
»Sahagún.«
»Ach ja, du weißt das natürlich schon alles. Na schön, es geht hier nur um das Beispiel, weil es so gut illustriert, was ich meine. Gelmirez wartet also in Sahagún, ob nicht doch noch ein Geleitbrief eintrifft, doch inzwischen, wir schreiben bereits das Jahr 1119, und das genau meine ich mit Zeit und Entfernung, stirbt der Papst in Cluny … und das alles mußt du überprüfen, die meiste Zeit widersprechen sich die Dokumente, es bleibt viel zu viel Raum für Spekulationen …«
»Aber das ist Jahrhunderte später doch noch genauso! Wenn ein Schiff nach Chile fuhr, dauerte es ein Jahr, bevor Karl V. wußte, ob es sicher angekommen war. Das ist doch nichts, worüber sich ein Historiker zu wundern braucht?«
»Von späteren Epochen wissen wir aber mehr.«
»Aber deswegen mache ich das ja gerade, ich will mehr darüber erfahren. Niemand außer Reilly hat bisher wirklich über sie allein geschrieben.«
»Aha! Ehrgeiz!«
»Kann schon sein.«
»Und trotzdem bleibt es eine Illusion. Beklag dich also später nicht bei mir, daß du in Papier erstickst. Dieses Projekt kostet dich, und in gewisser Weise auch mich, zehn Jahre. Ich wußte gar nicht, daß deine Generation noch in solchen Zeitabschnitten denkt. Bis dahin steh ich wahrscheinlich kurz vor meiner Pensionierung.« Zeit schien den hochgelehrten Herrn zu faszinieren. Entweder gab es zuviel davon oder zuwenig, jedenfalls schien sie nie auf die gleiche Weise gemessen zu werden können.
Erst nachdem Elik Oranje sich all das durch den Kopf hatte gehen lassen, gestattete sie es sich, über Arthur Daane nachzudenken, doch weil dieser Gedanke eine demütigende Unruhe in ihr hervorrief, ließ sie ihn sofort fallen und rief Arno Tieck an. Arthur sei, wie Tieck es ausdrückte, auf Weltreise in Finnland oder Estland und komme in dieser oder der nächsten Woche zurück. Was er nicht sehen konnte, war, daß Elik Oranje, nachdem sie aufgelegt hatte, die Crónica de los príncipes de Asturias , die Relaciones geneológicas de la Casa de los Marqueses de Trocifal und Die Urkunden Kaisers Alfons VII. von Spanien von Peter Rassow eines nach dem anderen durch ihr Zimmer pfefferte, das Licht löschte und noch eine Weile reglos im Dunkeln sitzen blieb.
*
An dem Tag, an dem Arthur Daane nach Berlin zurückkehrte, lag so etwas Albernes wie ein allererster
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