Allerseelen
einem früheren Leben, das diese Intensität nie gekannt hatte.
»Womit fangen wir morgen an?« fragte er.
Hugo Opsomer zog ein Buch aus seiner Tasche und zeigte ihm eine Stalinfigur, die zwischen Abfall und Müll auf dem Rücken lag. Er sah sie sich an und fragte sich, was daran so merkwürdig war. Er fragte Opsomer, aber der hatte sich das Foto schon länger angeschaut.
»Es ist die Mütze, nicht wahr?« sagte er.
»Normalerweile hätte sie runterfallen müssen, aber sie sitzt noch fest auf seinem Kopf.«
»Aber wenn die Figur wieder steht, haben wir nichts mehr davon.«
»Mach dir keine Sorgen, die steht nicht mehr. Es gibt auch keinen Russen in Tallinn, der sie wieder aufrichtet.«
Er hatte recht. Wenn irgend etwas deutlich machte, was in dieser Region passiert war, dann diese Figur. Nicht einmal so sehr, weil es Stalin war, sondern weil hier etwas lag, was eigentlich hätte stehen müssen. Die Welt, umgeworfen. Der Mann mit der napoleonischen Hand zwischen den beiden Bronzeknöpfen seiner bronzenen Feldherrnjacke war so lächerlich geworden, weil ihm diese Mütze nicht vom Kopf gerollt war, als er umfiel, er war als Puppe entlarvt worden, als ohnmächtiges Götzenbild, das nicht einmal dem simpelsten Naturgesetz gehorchen konnte. Jetzt, auf diesem Foto, wurde er von Müll und Unkraut überwuchert, genauso wie das Land, das er besetzt und erbarmungslos regiert hatte, den Alptraum seiner Herrschaft allmählich vergessen und verbannen würde, bis eines Tages nicht mehr davon übrig sein würde als ein Fluchwort. Jetzt war alles vorbei, der Bärentanz ausgetanzt, die Millionen gefallener, hingerichteter, verhungerter Toter in der Erde verschwunden, die sie aufgenommen hatte wie das Meer die Opfer des hier untergegangenen Schiffes – genauso nachhaltig, genauso unsichtbar.
Zwei Wochen lang würden sie unter Menschen filmen, die sich an alles, und anderen, die sich an nichts mehr erinnern konnten oder wollten, Überlebende, Spätere, Nachkommen, deren Kinder einst in der Schule würden lernen müssen, was über die Vergangenheit in den Büchern stand. Hausaufgaben, Unterricht. Es würde eher der glänzenden, strudelnden Wasseroberfläche gleichen als dem nie mehr zu ermittelnden Tod darunter.
*
Nachdem sie zweimal vergeblich wie eine Katze an Arthur Daanes Tür gekratzt und dahinter nur eine Stille gehört hatte, die völlige Abwesenheit bedeutete, hatte Elik Oranje erwogen, Arno Tieck anzurufen, und beschlossen, es nicht zu tun. Diese Möglichkeit blieb ihr immer noch.
Jetzt saß sie wieder in ihrem Zimmer, verbot sich, über ihren vergeblichen Gang nachzudenken, starrte auf die gotischen Buchstaben in Die Urkunden Kaisers Alfons VII. von Spanien vor sich und versuchte, sich darauf zu konzentrieren. Spinnweben! Einmal hat Urracas Sohn sich Kaiser genannt, danach tut er das nicht mehr bis nach ihrem Tod, und die einzige Quelle für dieses eine Mal ist ein Notarius aus Sahagún, ein Mönch, der sich offenbar in ihrer Nähe aufhielt. Der Erzbischof von Toledo, die Bischöfe von León, Salamanca, Oviedo und Astorga sowie eine Reihe hoher Herren hatten ihr Siegel daran gehängt, und zwar am 9. Dezember 1117. Die Lächerlichkeit dieses Datums fiel ihr auf, weil es an Sekretärinnen, Büros, E-Mail und Computer denken ließ. Was sollte man mit einer so willkürlichen Zahl? Sie versuchte, sich einen Kalender vorzustellen, auf dem das stand: 9. Dezember 1117. Dennoch hatte es diesen Tag einmal gegeben, in diesem Kloster von Sahagún hatten etliche großmächtige Herren beisammengesessen und diese Urkunde, die von diesem Mönch mit langsamen Buchstaben geschrieben worden war, mit ihren stilisierten Unterschriften bestätigt. Es war alles wirklich passiert, und trotzdem wollte es nicht wahr werden. Ein Satz, nein, ein mieser Satz ihres Doktorvaters ging ihr nicht aus dem Kopf, etwas in der Richtung von: »Ich muß dich doch noch einmal warnen, diese Art von Geschichten sind Sümpfe, in denen säuft man leicht ab. Ich habe in dem Buch von deinem Reilly geblättert, da hab ich allein schon vom Literaturverzeichnis zuviel gekriegt. Willst du dich allen Ernstes da hineinbegeben? Du sprichst natürlich Spanisch, das heißt, für dich ist das alles weniger obskur, aber trotzdem. Auf manchen Seiten stehen mehr Fußnoten als Text, das sollte mir natürlich keinen Schreck einjagen, aber die meisten dieser Dokumente wirst du hier nicht finden, nicht mal in Büchern. Du mußt nach Cluny, nach Santiago, nach Porto, ins Archivo
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