Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
Persönlichkeit. Sofern du erlaubst. Oder hätte ich sie nicht sehen dürfen?«
    Schlauer Victor. Etwas davon stimmte. Unmöglich, daß sie so sichtbar war. Das erwartete man nicht von einer Frau, die abends plötzlich wie ein Geist auf deiner Treppe saß und nicht dasaß, wenn man hoffte, sie sei da.
    »Aufpassen.«
    Diesmal spottete Victor nicht, und Arthur spürte, wie Wut in ihm hochkam. Das ging niemanden etwas an. Es gehörte ihm, und jemand brach hier ein. Aber er wußte, daß Victor das aus Freundschaft gesagt hatte.
    Er sah seine beiden Freunde an, Victor, der ihn nicht ansah, und Philippe, der das Gespräch nicht verstehen konnte, aber begriff, daß es irgendwie um Frauen ging, und das spannend fand. Ein Mann aus den dreißiger Jahren und einer aus dem achtzehnten Jahrhundert. Philippe erhob sich, um die Kerzen auf den Tischen anzuzünden. Jetzt wurde es noch schlimmer. »Ein Musketier, der die beiden anderen verloren hat.« Vera hatte recht. Ein fröhlicher Melancholiker.
    »Wenn du noch zu Schultze willst, dann müssen wir gehen«, sagte Victor.
    »Und ich muß aufpassen?«
    »Tust du ja doch nicht. Ein jeder folgt …«
    »… seinem Schicksal bis zum Ende«, sagten die beiden anderen.
    »Ihr kennt eure Klassiker.«
    »Bevor ihr zur Konkurrenz geht, spendiere ich euch noch ein Glas Champagner«, sagte Philippe. »Eine Kaskade.«
    Er stellte drei flache, weite Champagnerschalen ineinander und goß ziemlich schnell ein, wobei er die Flasche ungefähr dreißig Zentimeter über das oberste Glas hielt. Der Champagner sprudelte schäumend über den Rand ins zweite Glas, dann ins dritte, aber bevor er auch über dessen Rand fließen konnte, hielt er inne und hob die Gläser heraus.
    »A nos amours«, sagte er. Sie tranken.
    »Und auf den Frühling.«
    »Wann fährst du wieder weg?« fragte Philippe Arthur.
    »Er ist gerade zurückgekommen.«
    »Übermorgen«, sagte Arthur. An ihrem letzten Drehtag war Hugo Opsomer mit einem Fax zu ihm gekommen.
    »Schau mal! Endlich, nachdem ich ihnen zwei Jahre lang in den Ohren gelegen bin. Ein altes Projekt, etwas, was ich schon immer machen wollte.«
    »Was ist es?«
    »Die Achtundachtzig-Tempel-Wallfahrt in Japan. Und ich darf sogar meinen eigenen Kameramann mitnehmen.«
    Er hatte ja gesagt und es fast sofort bereut. Aber er hätte es auch bereut, wenn er nein gesagt hätte.
    »Achtundachtzig Tempel«, sagte Philippe träumerisch, »wie lange bleibst du weg?«
    »Ein paar Wochen, oder länger, ich weiß es noch nicht.«
    »Und du kommst geläutert zurück.«
    »Weiß der Himmel.«
    Sie gingen.
    Draußen auf der Kantstraße blieb Victor vor einem Hauseingang stehen.
    »Weißt du noch, wie hier die ganzen Polen bei Aldi anstanden? Und wie sie sich mit diesen großen Pappkartons abschleppten, mit Fernsehern und Videorecordern? Wie lange ist das her, sieben Jahre? Die sind jetzt alle reich. Gib zu, das ist eigenartig. Gorbatschow kommt hierher, gibt Honecker einen Kuß, und das ganze Kartenhaus fällt in sich zusammen. Aber was haben wir nun eigentlich erlebt? Die Polen sind alle wieder zu Hause und stellen selbst Fernseher her. Wir haben am Bett der Weltgeschichte gesessen, aber der Patient war betäubt. Und jetzt ist er immer noch dabei, aufzuwachen.«
    »Wer ist der Patient?«
    »Wir, du und ich. Alle. Spürst du das nicht, diese enorme Verschlafenheit? Ja, ja, Geschäftigkeit, Wiederaufbau, Demokratie, Wahlen, Treuhand, aber gleichzeitig diese Verschlafenheit, als sei es doch nicht wahr, als warteten sie noch auf etwas anderes. Ich glaube, ich will lieber nicht wissen, worauf. Malaise, mal à l’aise , niemand fühlt sich wohl und schon gar nicht hier. Wir hatten so ein schönes, ruhiges Haus, und auf einmal ist die hintere Wand rausgefallen, und jetzt zieht es so schrecklich, und alle möglichen komischen Leute kommen herein. Traumzustand, Wartezimmergefühl … gleich unter all dieser Aktivität, dieser Bewegung, diesen Mercedessen und Audis so ein Gefühl von: es geht so gut, aber es geht so schlecht, was haben wir falsch gemacht …«
    »Vielleicht bist du wirklich schon zu lange hier?«
    »Kann sein. Es ist ansteckend. Aber so eine leichte Schwermut, die liebe ich.«
    Dazu ließ sich nicht viel sagen. Er selbst verspürte eine andere Art von Müdigkeit, das zu frühe Aufstehen, die Fähre nach Helsinki, der finnische Wodka auf dem Rückflug, die bevorstehende, viel zu plötzlich kommende Reise nach Japan, der Gedanke, daß sie vielleicht in der »Weinstube« saß. Er

Weitere Kostenlose Bücher