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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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hinein folgte, aus der, wie sie später selbst feststellen konnten, der Frühling schon wieder verschwunden war. Der letzte Gruß war ein Windstoß gewesen, der die Kerzen zum Verlöschen brachte, und von draußen, gerade noch hereingeschlüpft, Verkehrsgeräusche, ein Bus, Schritte, Stimmen, dann nichts mehr, die bewiesene Abwesenheit, Stille, das Scharren ihrer Stühle, ihr wiederaufgenommenes, jetzt so anderes Gespräch.
    Die Sequenz seiner Bilder würde immer mit diesem Abschied beginnen, mit seinen Freunden, die mit ihm über Sibirien, über Landschaften, Flüsse, Leere fliegen würden, Bilder, die er auf der Insel all dieser Tempel bei sich haben wollte. Doch auch dort würde sich diese Tür hinter ihm schließen, würde das große Laufen beginnen, bei dem ihre Füße den Rhythmus vorgaben, noch immer dieselben Schuhe wie damals in der U-Bahn, das schwarzweiße Fell, nun aber mit etwas, was eine unmögliche Geschwindigkeit schien, ein Stakkato, das von ihrer Stimme begleitet wurde. Plötzlich wurde gesprochen, erzählt, gedacht, jemand erzählte ihm über ihren Platz in der Welt, ohne daß er später hätte sagen können, ob er daraus vertrieben oder im Gegenteil dort hineingelockt wurde, zwei verschiedene Menschen sprachen dort aus demselben Mund, einer, der sich sehnte oder gestand, sich gesehnt zu haben, und einer, der abwehrte, Einsamkeit forderte, Wege versperrte, sich weigerte, anzog, die Vergangenheit beschwor, mit düsteren, gefährlichen Erinnerungsfetzen und der dazugehörigen Wut, dann wieder auswich in eine Zukunft, eine Sturzflut von Geschichten über ihre spanische Königin, so daß er sich darüber gewundert hatte, jemand mit einer eigenen Vergangenheit als Gegenwart und der Vergangenheit von jemand anderem als Zukunft. Er hatte versucht, sich das vorzustellen, eine jahrelange Zukunft voller Bischöfe, Schlachten, Muslime, Pilger, eine Welt, die ihn nichts anging, nichts angehen würde, und währenddessen hatte er dieses Gesicht aufgenommen, gefilmt ohne Kamera, wobei er den Mund, der Dinge sagte, die ihn auf jeden Fall doch etwas angingen, vergrößert hatte, den weißen Schimmer ihrer Zähne, das Gehege, das all diese Worte entweichen ließ, die Verformung der Lippen bei jedem Nachdruck. Nichts gab es, nichts, das er nicht bemerkt hätte, das Lampenlicht, das, während sie weitergingen, immer wieder auf dieses Gesicht fiel und erlosch, das er mal, bei jenem ersten Mal, als Berbergesicht bezeichnet hatte, der erste Anblick einer Frau, die einem die Zeitung wegschnappen wollte, jener eine Augenblick, der jede nachfolgende Handlung, Szene, jedes Ende bereits in sich trug.
    Beim Schloß Bellevue war er stehengeblieben, weil er nicht mehr konnte, und zum erstenmal hatte sie geschwiegen. Er stand an eine Säule gelehnt, und erst nach langer Zeit, als erinnere sie sich plötzlich, daß er auch da war, hatte sie gefragt, was ihn auf seiner Reise am meisten beeindruckt habe, eine lächerliche Frage, wie aus einem Interview, der feige Verrat des Desinteresses, und er hatte, erinnerte er sich, langsam gesprochen, wie man zu einem Kind oder einem nicht allzu intelligenten Interviewer spricht, und von dem Gespräch erzählt (sich selbst erzählt), das sie mit einer uralten Frau aufgenommen hatten, die die letzte war, die ihre Sprache noch sprach, die Sprache ihres Volkes, eine ausgestorbene, nein, in diesem Augenblick aussterbende Variante des Ugrischen, über die Rätselhaftigkeit dieser Klänge, die in Kürze niemand mehr aus einem lebendigen Mund hören würde, und wie er an den Moment gedacht hatte, in dem diese Frau sterben würde, daß dann, was noch viel geheimnisvoller war, zum letztenmal in dieser Sprache gedacht werden würde, unhörbare Worte, die niemand aufnehmen würde. Danach waren sie weitergegangen, langsamer jetzt, Schritte, zwei Uhren, die nicht im selben Takt liefen, Unter den Linden, Friedrichstraße, Tucholskystraße, die goldene Kuppel der Synagoge, grüne Männer mit Maschinengewehren, Schaudern, faserige Stille. Innerlich stillgestanden, umgedreht, dieses Bild noch einmal aufgenommen, aber sie war bereits weitergegangen, das Sprechen hatte auch wieder begonnen, wickelte ihn ein, Wendungen, Biegungen, Mäander, heiser, aspiriert, eine andere Rhetorik, ein Gespräch in einem Bergdorf, eine Berberfrau unterwegs, Monbijoustraße, Hackescher Markt, er hörte schon lange nichts mehr, Höhlen von Innenhöfen, Schlagschatten von Gebäuden, spärliches Licht. Wohin sie ging, wußte er nicht,

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