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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Frühlingshauch über der Stadt. Die Finnair-Maschine, mit der er aus Helsinki zurückgeflogen war, hat eine Route gewählt, bei der man die Narbe, die noch immer durch die Stadt lief, gut erkennen konnte, eine Spur von Niemandsland, die sich langsam mit neuen Gebäuden, Straßen, Grünflächen füllte. Er sah sogar die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, die nach vierzig Jahren wieder nach Westen rennen durfte, als habe sie Eile, zum Atlantik zu gelangen. Dort hatten sie gestanden, die Tanzenden auf der Mauer, in ihrem Nimbus aus silbernem Wasser.
    Zwei Stunden später sagte er das zu Victor. Jeder kannte die Erinnerungen des anderen, doch sie hatten nichts dagegen, sie sich noch einmal zu erzählen, und schon gar nicht in Philippes Gegenwart, der dann immer große Augen wie ein Kind machte, das ein und dieselbe Geschichte auch noch zum hundertstenmal hören kann. Victor hatte sich an jenem historischen Tag »wie ein einsames Spermium« entgegen dem brausenden Strom in den Osten aufgemacht, um einen alten Freund zu besuchen, »ein antihistorisches Exerzitium«. Der Mann, ein Bildhauer, halbgelähmt nach einem Herzinfarkt, hatte mitten im Zimmer in seinem Rollstuhl gesessen »wie der steinerne Gast, allerdings ohne diese schrecklichen Schritte«. Im Fernsehen sahen sie gemeinsam, wie der große Strom gen Westen zog.
    »So sind sie im Mai noch an Gorbatschow und Honecker vorbeimarschiert. Mit Fähnchen in der Hand.«
    »Vielleicht nicht dieselben?«
    »Spielt keine Rolle. Es sind immer dieselben. Menschen können in zwei Richtungen laufen, wie du weißt. Du mußt ihnen nur sagen, wohin. Sieh dir diese Freude an! Sie wissen noch nicht, was sie erwartet. Hundert Mark gehen sie sich holen. Schade, daß Brecht das nicht mehr erlebt. Aber der schläft. Was machst du hier eigentlich? Du bist genau gegen den Strom der Geschichte geschwommen!«
    Der Freund hatte früher die Bühnenbilder für das Berliner Ensemble gestaltet.
    »Ich? Ich mache einen kleinen Spaziergang. Die anderen müssen heute abend übrigens auch alle wieder nach Hause.«
    »Dann können sie sich mal Gedanken darüber machen, wie lange sie dieses Haus noch haben. Solange ich lebe wohl schon noch.«
    »Du hast es doch nie so mit denen gehabt, oder? Du hast doch immer von Arschlöchern gesprochen.«
    »Ja, aber es waren meine Arschlöcher. Ich war an sie gewöhnt. Es war übrigens auch gemütlicher, als du denkst.«
    »Für dich, ja.«
    »Ach, den Mist, den man kennt, eintauschen gegen den Mist, den man nicht kennt, soll das vielleicht das große Leben sein? Das hab ich schon dreimal miterlebt. Erst Weimar, dann Hitler, dann Ulbricht, und jetzt das wieder. Ich will, daß man mich in Ruhe läßt. Sieh dir das an, diese Untertanenvisagen. Holen sich alle eine Banane, genau wie die Affen im Zoo.«
    »Du hattest Bananen.«
    »Ich mag keine Bananen. Lächerliche Form, dieses dämliche dicke Röckchen, das man ihnen ausziehen muß. Wenn man sie wenigstens noch viereckig gemacht hätte, da, sieh dir das an!«
    Das Fernsehen zeigte eine dicke Frau, die sich eine Banane in den Mund steckte.
    »Das ist doch reinstes Porno. Es gibt Dinge, die müßten verboten werden. Möchtest du einen Kognak?«
    Auf dem Rückweg hatte Victor selbst am Checkpoint Charlie eine Banane und ein Päckchen Kaugummi bekommen.
    »Von der Geschichte.« Er hatte damit noch in die Fernsehkameras gewinkt, in der Hoffnung, daß sein Freund es sähe.
    Es war noch ruhig im »L’Alsace«.
    »Nichts los hier.«
    »Fußball«, sagte Philippe. Und dann: »Du bist wohl nicht mehr von dieser Welt? Fußball, das ist so was wie der autofreie Sonntag. Keine Autos, keine Gäste, kein Verbrechen. Was macht die Liebe? Diese geheimnisvolle Dame, die nur Arno gesehen hat?« »Keine Ahnung.«
    »Bring sie doch mal mit.«
    »Philippe, ich weiß nicht einmal, wo sie wohnt.«
    »Kein Problem«, sang Victor. »Wenn du sie sehen willst, mußt du heute abend mit zu Schultze. Sie scheint Arno so ein bißchen als ihren Guru zu betrachten. Oder als ihren Sparringspartner, auch möglich. Sie streiten sich ständig, aber über höhere Themen. Geschichte als Geschichte oder Geschichte als Religion, so was. Kleine Chroniken versus große Gedanken, Daten versus Ideen, Braudel versus Hegel, glaube ich. Unnütz, aber amüsant. Und ein bißchen gegen Männer, das gefällt Arno. Immer bereit, sich schuldig zu fühlen. Aber sie verteidigt sich gut.«
    »Wie findest du sie?« Er hörte die Begierde in seiner Stimme.
    »Hübsch. Eine

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