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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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merkte, daß er ihren Namen noch immer nicht aussprach. Namen mußten ausgesprochen werden, laut Erna. Wie war das noch? Sonst schob man sie fort. Und wenn das nun beabsichtigt war? Wollte er denn, daß sie da war, oder nicht? Nein, nicht jetzt, mit all den anderen – und Enttäuschung, als er sie nicht sah.
    »Kleiner Däumling«, rief Zenobia. »Komm, setz dich zu mir. Erzähl mal, wieviel Russen hast du gesehen?«
    »Ich hab dir was mitgebracht.«
    Zenobia betrachtete aufmerksam die Ansichtskarte, die er ihr gab. Ein rotwangiges Kind mit kirschroten Lippen und einer großen Pelzmütze schief über dem Kindergesicht. His Imperial Majesty the Crown Prince. Sie seufzte. Auf der anderen Karte war die erste elektrische Straßenbahn in Sankt Petersburg abgebildet, auf einer Brücke über die Newa. Offiziere auf dem Fahrrad.
    »Da capo ad infinitum. Arme Russen. Jetzt können sie wieder ganz von vorn beginnen. His Imperial Majesty hat siebzig Jahre lang ruhig in einer Leimgrube gelegen, wird aber in Kürze neu bestattet, möglichst in Gegenwart von Jelzin. Romanows, Rasputin, Popen, Weihrauch, Dostojewski, die große Restauration kann beginnen. Und das endet dann wieder mit all diesen Männern mit Hüten auf dem großen Balkon. Herr Schultze, einen Wodka. Und, hast du wenigstens auch hübsche Russinnen gesehen?«
    »Er ist schon unterwegs nach Japan«, bemerkte Victor.
    Herr Schultze erschien am Tisch und verbeugte sich vor Arno.
    »Herr Tieck«, sagte er, »wissen Sie, was ich gelesen habe? Daß Ihr Buch über unseren großen Hegel ins Spanische übersetzt worden ist.«
    »Hilfe«, murmelte Victor, aber Schultze war nicht zu bremsen.
    »Und darum möchte ich dieser Runde eine Beerenauslese spendieren. Das kennen Sie in Holland nicht«, sagte er zu Arthur.
    »In Holland sind Beeren Bären«, murmelte Victor.
    »Die letzten, die allerletzten Trauben, die noch am Weinstock hängen, werden einzeln von behutsamen Fingern gepflückt. Die Franzosen nennen das pourriture noble … glückselige, edle Fäulnis. Das ist doch das mindeste, was ich bei einem solchen Anlaß kredenzen kann. Und für jeden ein kleines Stück Gänseleber. Was halten Sie davon? Nicht zuviel, denn danach habe ich etwas ganz Besonderes, wenn Sie alle mithalten. Abschied vom Winter, von der Dunkelheit, der Grimmigkeit: meine Wurstkathedrale! Und dazu dann natürlich keine Beerenauslese mehr …«
    »Was kostet das?«
    »Hier wird nicht geflucht!«
    Sie aßen, sie tranken.
    »Hegel auf spanisch?« fragte Zenobia.
    Arno errötete. »Ach, das hab ich doch vor so langer Zeit geschrieben. Auf spanisch, ja, ich hab versucht, die Übersetzung mitzuverfolgen. Aber es ist, als wolle man einen Adler zum Singen bringen.«
    »Eine Krähe«, sagte Zenobia. »Kant ist der Adler.«
    »Nein, Kant ist eine Giraffe.«
    »Eine Giraffe? Wieso?«
    »Ortega y Gasset …« Arno wußte alles. »Ortega y Gasset sagt irgendwo, daß er zwanzig Jahre lang ein treuer Kantianer gewesen ist, ihn aber irgendwann nur noch ganz selten las, genauso wie man den Zoo besucht, um die Giraffen zu sehen.«
    »Wunderbare Tiere«, sagte Vera, die nie etwas sagte. »Kannst du dir vorstellen, wie es ist, auf alle anderen Tiere herabzuschauen?«
    Die Wurstkathedrale war ein beeindruckendes Bauwerk. Violettschwarze Würste, graue, pralle Würste, kleine weiße runde, dünne rote Stränge, alles ineinandergreifend, sich übereinander türmend, eine dampfende Kirche mit Strebepfeilern und Türmen, Torbögen und Seitenschiffen, auf einer vierfarbigen Erde aus geschnittenem glänzendem Grün-, Weiß-, Rot- und Wirsingkohl.
    »Ich bin Atheist«, sagte Victor leise.
    »Um so besser«, sagte Arno, »der Bildersturm war schließlich auch eine Dekonstruktion.«
    Eine halbe Stunde später war von der Kathedrale nichts mehr übrig, sie sahen, wie das Fleischgebäude langsam einstürzte, wie die Mauern wackelten und in ihrem eigenen Fett wegrutschten, wie die Farben der Seitenschiffe ineinander überflossen, bis zum Schluß nur noch eine Masse aus geronnenem Blut, rosa marmorierte Scheiben, leere Pellen und Kohlreste übrigblieben.
    »Das Blut der Märtyrer«, sagte Zenobia. »Arthur! Du schläfst! Ihr modernen Kinder von heute habt keine Ausdauer mehr. Du machst ja schon bei einem kleinen Schweinchen schlapp.«
    Es stimmte. Die Kerzen, der dunkle Raum, die Stimmen der anderen, die Überbleibsel der Schlachterei in der großen Tonschüssel, die Gläser Rheinwein, um ihn herum begann es sacht zu schwanken, er saß

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