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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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doch er spürte, daß sie das Ziel fast erreicht hatten. Eine Tür, ein kahlgeschorener Mann mit einem Gesicht, das ihm nicht gefiel, eine Treppe hinunter, ein stampfendes, mechanisches Geräusch, Unterweltlicht, fahle Gestalten, die an einer Theke herumlungerten, Gegenmenschen. Auch die hatte er also aufgenommen, andere Stimmen, die nicht sprachen, wie seine Freunde sprachen, nölige Bösartigkeit, Sprache, die in Höhlen gesprochen wurde.
    Sie schien diese Leute zu kennen, auch ihre Stimme war anders geworden, eine Art Schreien, um den Lärm zu übertönen, schweres Metall, dachte er auf niederländisch, der Lärm von Fabriken, in denen nichts fabriziert wurde. Stampfende Gestalten auf der Tanzfläche, Zwangsarbeiter eines nicht vorhandenen Produkts, sich abrackernd, verkrampft, sich zum gnadenlosen Rhythmus bewegend, bei jedem Peitschenhieb in sich zusammenkriechend, mitschreiend bei dem, was sie offenbar als Worte erkannten, ein deutscher Höllenchor, rauh, über kaputtes Eisen gezogene Stimmen, giftiges Metall.
    Gegenmenschen, das waren Menschen, die keine Stille ertrugen, Ecstasygesichter, Speedgesichter, Koksmasken, Vanitasgesichter mit mageren Leibern in Großstadtlumpen, und jetzt, sie hatte etwas gesagt, und er hatte plötzlich ihren Mantel auf dem Arm, jetzt schob sich die Frau, die eben noch Flügel gehabt hatte, in den Hexenkreis, er bekam ein Glas lauwarmes Bier von einer Spukgestalt in die Hand gedrückt, zog sich in eine Ecke zurück, wollte nichts sehen, wollte nicht sehen, wie sie auf dieser Tanzfläche in orange- und violettfarbenen Wirbeln des kreisenden Lichts im Fastdunkel wie eine Mänade tobte, eine gedemütigte Irre, eine Frau, die er nicht kannte, die er erst wieder sah, als wieder ein anderer nach Bier stinkender Karpatenkopf über ihm hing und etwas rief, was er nicht verstand. Er sah, daß der Mann auf sie deutete, die jetzt allein unter den Lichtern tanzte, mit hundert Armen, die sie nach allen Seiten hin ausstrecken konnte, fließend und dann wieder ruckartig, ein Wüstentanz, mit dem sie die anderen von ihrem Platz gejagt hatte, ein Kreis, der um sie herumstand, grinsend und lauernd, und jetzt verstand er auch, was der Mann mit seinem stinkenden Atem gesagt hatte, Ausländer, Ausländer, und die Kotzgeräusche, die er dazu gemacht hatte, und urplötzlich hatte der Kampf begonnen, er hatte einen Schlag ins Gesicht bekommen, fiel, spürte einen Schuh in den Rippen, sah, wie jeder gegen jeden kämpfte, fast im Takt der Musik, sah, wie sie jemanden mit einem Karateschlag zu Boden schlug, wie sie aus dem Schlangenknäuel kämpfender Leiber auf ihn zukam und ihn mitzog. Der Rausschmeißer am Eingang wollte sie aufhalten, wich jedoch zurück, als er ihr Gesicht sah. In dem Moment hörten sie die Sirene des Streifenwagens. »Scheiße«, sagte der Mann, aber sie waren schon draußen und sahen von dem Platz hinter der Mauer aus, zu dem sie ihn mitgezogen hatte, wie die Polizisten auf den Innenhof rannten.
    »Du blutest«, sagte sie, aber er wußte, daß es nichts Ernstes war. Sie wollte sein Gesicht abwischen, aber nun war er es, der sie abwehrte. Sie zuckte mit den Achseln und ging vor ihm her, bis zu einer Bushaltestelle. Er versuchte herauszubekommen, wann der nächste Bus käme, aber er wußte ja nicht einmal, wo sie hinfuhren, und wollte auch nicht fragen. Sie waren die einzigen Wartenden. Er entfernte sich ein paar Schritte von ihr und sah sie an, als wäre sie eine Fremde. Das war also eine Frau, mit der er geschlafen hatte, nein, die mit ihm geschlafen hatte, aber solche Dinge waren unsichtbar. Zwei Wartende an einer Bushaltestelle, meterweit voneinander entfernt. Eine Frau, die fror, die die Hände tief in den Taschen ihres blauen Gabardinemantels vergraben hatte und die Arme dicht an ihren Körper drückte. Ein Mann, der noch einen Schritt weiter weg ging. Dadurch wurde die Frau einsamer. Unmöglich zu wissen, woran sie dachte. Niemals könnte jemand ahnen, daß dies eine Frau war, die vor einer Viertelstunde einen Karateschlag ausgeteilt hatte, die vor einer halben Stunde in einem zwielichtigen Keller wie eine Besessene getanzt hatte.
    Er ging noch weiter bis zur Straßenecke, um zu sehen, wo sie waren. Rosenthaler Straße. Wo um Himmelswillen lag das? Rosenthaler Straße, Sophienstraße, er wußte es und wußte es nicht. Als er sich umdrehte, sah er den Bus kommen, halten, sah, daß sie einstieg. Was war das? Wie konnte es sein, daß er so langsam war und alles andere so schnell? Mit

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