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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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der Gegenwart eine Vergangenheit zu machen. Du bringst immerzu alle Zeiten durcheinander. Auf diese Weise bist du nie irgendwo richtig.«
    Er wußte, daß er jetzt wieder durch den Modergeruch der Zeitungen kam, und ging so schnell wie möglich hinaus. Er sah sich noch rasch um, ob sie nicht irgendwo war, und versuchte sich zu erinnern, wie sie in der Nacht gegangen waren. Falkplatz. An irgendeiner Ecke trank er einen tödlichen Kaffee und ging weiter zu der Sporthalle, in der jetzt junge Leute Handball spielten. Eine Zeitlang schaute er, das Gesicht an die großen Scheiben gedrückt, ihrem Rennen und Springen zu und überlegte, wie alt sie wohl waren. Dreizehn, vierzehn, älter auf keinen Fall. Sie waren noch sehr jung gewesen, als die Mauer fiel, als die große Halle hier noch nicht gestanden hatte. Dies war also die erste Generation der neuen Deutschen. Er sah, wie sie lachten und hochsprangen, mit dem Ball an dem Knäuel der anderen vorbei- oder hindurchzukommen versuchten, Jungen und Mädchen, er sah die Freiheit und das Wirbeln ihrer Bewegungen, dachte an Thomas, wie immer in solchen Situationen, und drehte sich dann zum Park um. Nun, aus dem war wenig geworden, in dieser Hinsicht ging es den Menschen offenbar besser. Kleine, schlaffe Bäumchen, die zu dicht beieinanderstanden, kahle Stellen, eine gerupfte Utopie, vielleicht war er der einzige, der das noch wußte. Gefilmt hatte er damals auch noch, jetzt müßte er diese Bilder dagegensetzen, und sei es nur aus dem Grund, weil alles so läppisch geworden war, ein Teich, und darin ein paar aufeinandergestapelte Würfel, eine hohe grüne Böschung von unziemlicher Unschuld, wo früher der Todesstreifen gelegen hatte. Er ging die Schwedter Straße entlang, in den dunklen, früher verbotenen Gleimtunnel hinein. Die Lichter brannten mit der Farbe von Gaslampen, Finsternis, Kopfsteine, Feuchtigkeit, hier war es 1870, eine Rattenhöhle, man atmete erst wieder tief ein, wenn man draußen war. Er mußte jetzt so schnell wie möglich nach Hause.
    *
    Auf dem Anrufbeantworter ein Chor von Stimmen. Arno, der fragte, ob er vor seinem Abflug nach Japan noch einmal vorbeikäme, Zenobia, die um einen Anruf bat, Victor, der sagte, er müsse sich in Koyasan erleuchten lassen, Hugo Opsomer, der erzählte, die Reise nach Japan sei wegen der viel zu kurzen Vorbereitungszeit um mindestens eine Woche verschoben worden, der NPS, der jemanden für die Minenfelder in Kambodscha suchte, Erna, die fluchte und sagte, wenn er nicht nach Amsterdam komme, dann käme sie nach Berlin, und zum Schluß noch einmal Hugo Opsomer, der fragte, ob er nach Brüssel fliegen könne, um gemeinsam die Pläne auszuarbeiten und nach Leiden, ins Völkerkundemuseum, zu fahren, »da sitzt der Sohn des alten van Gulik, der kann uns bestimmt weiterhelfen. Denk dran, Freund, achtundachtzig Tempel, einige nur zu Fuß erreichbar! Wir müssen trainieren!«
    Nur die Stimme, die er hören wollte, war nicht dabei. Victor brauchte er noch nicht zurückzurufen, Erna bat er, für ihn beim NPS abzusagen. Danach sprach er eine Mitteilung aufs Band, daß er mindestens zwei Monate verreist sei, rief die Sabena an, um einen Flug nach Brüssel zu buchen, und begann, seine Koffer zu packen. Doch er wußte, daß sich unter jeder schnellen Bewegung eine andere, langsame verbarg, die in eine andere Richtung wollte, zu einem Rattentunnel in der Unterwelt, zu einem Platz mit verunglückten Bäumen, wo Kinder in der Max-Schmeling-Halle Handball spielten, zu einem düsteren Hausflur, in dem es nach Schimmel und vermodernden Zeitungen roch und wo er hinter einer Frau hergegangen war, die er nach all den Tempeln wiederfinden mußte. Er rief Arno an, um zu sagen, daß er auf dem Weg nach Tempelhof noch vorbeikäme.
    *
    »Du bist ja schon gar nicht mehr da«, sagte Arno Tieck mit einem Anflug von Besorgnis. Arthur war gekommen, hatte seine Siebensachen im Flur abgestellt und saß jetzt Arno gegenüber im Arbeitszimmer. Seltsam, wie manche Freunde genau spürten, was mit einem los war. Es stimmte im wahrsten Sinne des Wortes, der Koffer war gepackt, man war bereits aufgebrochen, das ganze Sein stand im Zeichen der Reise, alle Bewegungen, die man jetzt zu vollführen hatte, würden von äußerster Flüchtigkeit sein. Ein Taxi, ein Flugzeug, die Landschaften unter einem, sogar die Tage in Brüssel, der Besuch in dem Museum in Leiden als Vorbereitung auf ihre Reise nach Shikoku, Fotos der Tempel, die sie besuchen würden, Gespräche über die

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