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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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weit ausgebreiteten Armen rannte er auf den Bus zu, der gerade anfuhr. Der Mann stoppte, öffnete die Türen, trat aber sofort wieder aufs Gas, so daß er das Gleichgewicht verlor und längelang auf dem Mittelgang landete. Von so nahe hatte er die Pelzschuhe noch nie gesehen.
    »Zuviel gesoffen, was?« rief der Fahrer.
    »Nein, zu früh aufgestanden«, sagte Arthur. Ich komme aus Estland, wollte er sagen, überlegte sich aber gerade noch rechtzeitig, wie lächerlich das klingen würde.
    »Ich komme aus Estland.« Das sagt man nicht zu einem Berliner Busfahrer, das sagt man zu einer Frau in einem leeren Nachtbus, die mit verschlossener Miene hinausschaut oder nicht schaut und irgendwo hinfährt, von dem man nichts weiß. Wenn der Mann nicht angehalten hätte, stünde er immer noch an dieser Haltestelle. Er setzte sich ihr gegenüber hin. Karate, Mänade, Staatsbibliothek, Weltmeisterin im Abschiednehmen. Und er selbst? Wie viele Erscheinungsformen hatte er selbst an diesem Tag angenommen? Ein Mann, der sich in Tallinn rasiert, ein Mann an einem kalten, vom Wind gebissenen Kai, ein Mann an einer Reling, in einem Flugzeug, an einem Tisch unter Freunden, nächtlicher Spaziergänger mit einer Frau. Und jetzt ein Mann in einem Bus, der eine Frau ansieht. Jeder bekam ein Fragment, niemand den Film. Sie drückte auf den Knopf zum Zeichen, daß der Bus halten sollte. Sollte er jetzt mit aussteigen oder nicht? Er blieb sitzen und sah, wie sie aufstand. Erst als der Bus stoppte und sie ausstieg, sagte sie über die Schulter: »Wir sind da.« Die Tür schloß sich bereits wieder hinter ihr.
    »Moment, bitte«, rief er dem Fahrer zu.
    »Doch zuviel gesoffen«, sagte der Mann, öffnete die Tür jedoch noch einmal.
    Diesmal hatte sie gewartet. Sie stand so dicht am Ausgang, daß er gegen sie prallte.
    »Du blutest noch immer«, sagte sie. »Bleib mal stehen.«
    Sie hatte ein Taschentuch hervorgezogen und fuhr damit über sein Gesicht. Danach leckte sie mit ihrer Zunge über eine Ecke des Taschentuchs, um es anzufeuchten, und wischte noch einmal über diese Stelle. Jetzt spürte er, wie es brannte.
    »Eine kleine Schnittwunde«, sagte er.
    »Du hast Glück gehabt. Der Typ hatte ein kaputtes Glas in der Hand. Er hätte dein Auge treffen können.« Es war das rechte Auge. Ein einäugiger Kameramann. Aber es war nichts passiert.
    »Warum gehst du in diesen Schuppen?«
    »Weil sie mich dort nicht wollen. Hast du die Texte verstanden?«
    Nein, die hatte er nicht verstanden, aber er hatte gehört, wie die Musik alles zerfetzte.
    »Kannst du sie denn verstehen? So gut ist dein Deutsch nun auch wieder nicht.«
    In dem rauhen, aggressiven Gebrüll hatte er kaum Wörter unterscheiden können.
    »Dafür reicht es. Vor allem, wenn sich jemand die Mühe macht, es dir zu erklären.«
    »Damit hast du ihnen bestimmt einen großen Gefallen getan.«
    »Genau. Aber sie haben mich immer in Ruhe gelassen.«
    »Bis jetzt.«
    »Das kam, weil ich nicht allein war.«
    »Also meine Schuld.«
    »Quatsch. Ich hab sie provoziert.«
    »Aber warum gehst du da hin?«
    »Das erste Mal aus Neugier. Danach wegen der Herausforderung. Ich liebe Musik, die gegen mich ist. Vor allem wenn ich dazu tanzen kann.«
    »Tanzen? Das war eher ein Wutanfall.«
    Sie blieb stehen und sah ihn an.
    »Langsam kapierst du was«, sagte sie.
    Er war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wollte, und antwortete nicht.
    Milastraße, Gaudystraße, das sagte ihm etwas, aber er wußte nicht mehr, was. Pockennarbige Häuser, Fensterrahmen ohne Farbe, abgeblätterter Putz. Jetzt kamen sie zu einem freien Platz mit etwas, das wie eine riesige Sporthalle aussah. Drinnen brannte noch schwaches Licht in dem großen leeren Raum, in dem tagsüber wohl Handball gespielt wurde. Vor den großen Fenstern standen drei Aluminiumfahnenmasten, an denen der Wind ein hohes heulendes Geräusch produzierte. Jetzt wußte er, wo er war. Sie bog nach rechts und ging durch eine Art Park. Es war stockfinster, sie mußte den Weg gut kennen. Falkplatz. Als sie diese Bäume gepflanzt hatten, stand die Sporthalle noch nicht. Er fragte sich, was aus den Bäumen geworden war, doch im Dunkeln war nichts zu erkennen.
    Sie überquerte eine Straße, bog um eine Ecke, öffnete eine große, schwere Tür. Im Flur stank es nach nassen Zeitungen, Schimmel, er wußte nicht, was, ein Geruch, den er nie mehr vergessen würde. Sonderbar, konnte er später denken, daß von einer Nacht, in der so viel geschehen sollte, von allen

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