Allerseelen
Eindrücken, Bildern, Geräuschen stets dies sich als erstes einstellen würde, ein Geruch, der etwas mit klammer Kälte und Fäulnis zu tun hatte, es mußte die Zeit selbst sein, die da vermoderte. Die Zeitungen hatten etwas behaupten, festhalten, berichten wollen, was in der Welt passiert war, doch Feuchtigkeit hatte die Blätter aneinandergeklebt, die Buchstaben zur Hälfte verwischt, und so hatten sie sich in ihr Gegenteil verwandelt, anstatt das Geschehene festzuhalten, kamen sie dem großen Vergessen zuvor, Berichte, Meinungen, Kritiken, alles ein grauer nasser Brei, der nach Fäulnis stank.
Eine Treppe hinauf, eine farblose Tür, an der auf niederländisch »Zutritt verboten« stand. Auf dem Fußboden überall Bücher im Kreis, rings um eine freie Fläche. Sie begann sie einzusammeln, damit er sich bewegen konnte. Sie hätte sagen können, was man in solchen Situationen sagt, daß bei ihr ein Saustall herrschte, daß es klein war, daß es armselig war, aber sie sagte nichts, hängte ihren Mantel in einen Schrank, streckte ihre Hand gebieterisch nach seinem aus, den sie entgegennahm, zusammenfaltete und in eine Ecke neben der Tür legte.
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Nein, auch das sagte sie nicht, und ebenso nicht, daß sie noch nie jemanden in dieses Zimmer gelassen hatte. Sie sagte nichts, und er sagte nichts. Sie standen sich gegenüber, er hatte gar nicht gewußt, daß zwei Menschen so wenig Geräusch machen konnten. An alldem war eine unausweichliche Präzision, die Stille wurde in einer Choreographie gezählt, sie mußte so lange dauern, bis es nicht mehr zu ertragen war, dann erst würde sie ihren Arm heben, mit der Hand seine Kleider berühren, sanft daran zupfen, eine winzige Geste, doch nun konnten sie gleichzeitig ihre Kleider ablegen, Geraschel, das Geräusch, das Stoff macht, wenn er fällt, wenn er gefaltet wird. Sie legte sich hin und sah ihn an, streckte den Arm aus. Scheu, davon hatte Victor gesprochen, damals, einst, in Charlottenburg. Das war es also, Scheu. Eine Form von Schauder. Er wußte, daß, was immer geschehen würde, es nicht straflos sein würde, daß diese Frau einen Entschluß gefaßt hatte, daß sie ihn nicht mied, nicht mehr vor ihm auswich, daß sie ihm nicht widerfuhr, daß dies eine Gefahrenzone war, in der er sich bewegen mußte, als sei er kaum da, in der er wissen mußte, daß er hier Zutritt erhalten hatte, daß er anwesend war, damit sie abwesend sein konnte, daß hier nach einer so absoluten Form des Vergessens gesucht wurde, daß er sich erst dann von ihr mitreißen lassen durfte, wenn diese Abwesenheit erreicht war, wenn die Körper in diesem Zimmer ihre Personen vergessen hatten, bis ein Mann viel später den Kopf von der Schulter einer Frau heben und diesen anderen Kopf unter sich betrachten und Tränen in einem abgewandten Gesicht sehen würde, wenig Tränen, eine Narbe, die glänzt, einen Körper, der sich zusammenrollt, als wolle er jetzt für allezeit schlafen, und der nicht mehr dasein wird, wenn er aufwacht, wenn das graue Berliner Licht durch die vorhanglosen Fenster hereinschleicht, er die Stille, die Bücher, den fahlen, kerkerartigen Raum wahrnimmt. Noch eine Weile denkt er, daß sie zurückkommen wird, bis er weiß, daß das nicht der Fall ist. Er steht auf, groß und nackt, ein Tier in einem abwehrenden Territorium. Er wäscht sich am Waschbecken, jedes Geräusch, das er macht, ist zuviel. Alles ist unerlaubt. Trotzdem hebt er noch jedes einzelne dieser Bücher auf, betrachtet ihre Handschrift, und sie sieht aus, wie er es sich schon gedacht hat, geflochtener Draht, wie ihr Haar, Striche, Durchstreichungen wie Waffen, messerscharf. Jahreszahlen, Namen, Sätze, die ihn ausschließen, bis er sich selbst ausschließt. Das letzte, was er sieht, ist das Foto einer alten Frau auf dem Fensterbrett neben ihrem Bett, sehr holländisch, streng. Er kann keine Ähnlichkeit mit ihr entdecken, mit Ausnahme der Intensität des Blicks. Weil er Filmer ist, sieht er seine Bewegung die Treppe hinunter als Zurückspulen.
»Aber dann müßtest du doch die Treppe rückwärts hinuntergehen.« Erna. Dieses Gespräch hatten sie schon öfter geführt. Erna war, mehr als jeder andere, den er kannte, gegen die Vergangenheit.
»Du hast da nichts zu suchen. Du bist da schon einmal gewesen. Wenn du immer nur dort sein willst, bist du nicht hier.«
»Ich kann die Vergangenheit doch schwerlich leugnen.«
»Ist auch nicht nötig. Aber du treibst es zu weit, du bist ewig dabei, aus
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